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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

78-80

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Müller, Norbert:

Titel/Untertitel:

Der christliche Weg. Systematische Theologie am Anfang des 21. Jahrhunderts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 484 S. gr.8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 3-374-02312-6.

Rezensent:

Udo Kern

Dieses Buch, so heißt es auf dem Buchrücken, »bietet eine Gesamtdarstellung der christlichen Glaubenserkenntnis aus evangelischer Sicht«. Es geht zurück auf Vorlesungen, die sein Autor, der jetzt emeritierte Professor für Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Norbert Müller, in Halle von 1968 bis 1990 gehalten halten. Den Ausdruck »Weg« im Titel benutzt M. mit Bezug auf die Apostelgeschichte, in der dieser als »Selbstbezeichnung der christlichen Gemeinde« gebraucht werde. M. versteht sein Buch als Hinweis darauf, »was das Christentum den Menschen anzubieten hat«, nämlich: »die Begegnung mit einer bestimmten Form des Wirklichkeits-, des Selbst- und Weltverständnisses, die nicht nur der verstehenden Betrachtung, sondern der Orientierung dienen möchte« (5).

Das Buch besteht aus drei Hauptteilen. Der erste fundamentaltheologische Teil mit dem Titel »Wirklichkeit« befasst sich mit den verschiedenen Dimensionen und Aspekten der Gottesfrage: Wort Gottes, Gottesbegriffe, Gotteserfahrung, Zweifel an Gott, Unglaube, Atheismus, Vernunft und Offenbarung, natürliche Theologie und die Offenbarung als Gegenwart Gottes werden thematisiert, jedoch nicht Religion als eigener Topos. Der (umfänglichste und materialreichste) zweite Hauptteil »Gottes Wort unter uns« behandelt die traditionellen Haupttopoi der christlichen Dogmatik. Einem ersten Kapitel mit der Überschrift »Die Gegenwart Gottes und die Wahrheit der Theologie« folgen weitere, die theologische Kosmologie, theologische Anthropologie, Christologie, Ekklesiologie mit Pneumatologie, Eschatologie mit Trinitätslehre behandeln. Theologische Ethik im »Umriss« wird im dritten Hauptteil (»Einübung zur Zeitgenossenschaft«) geboten, und zwar von der theologischen Basis aus, dass die dem Menschen im Glauben eröffnete Freiheit in der verantwortlichen Hinwendung des Glaubenden zum Nächsten ihre notwendige Bewährung habe. Ethische Prinzipienlehre als Gesetz der Freiheit thematisiert das 1. Kapitel, »Die guten Werke als Verwirklichung der Freiheit« das 2. Kapitel und im 3. Kapitel (»Reich Gottes und Welt«) wird Prinzipielles betreffs Sozialethik entfaltet.

In bestechend klarer Diktion ist diese Systematische Theologie von M. geschrieben, so dass es auch ein ästhetischer Genuss ist, sie zu lesen. Ich behaupte: Wir haben hier sprachlich gesehen einen der gelungensten Entwürfe deutschsprachiger Dogmatik und Ethik vor uns liegen. Auch sprachontologische Argumente sind dieser Arbeit von M. nicht nur nicht fern, sondern sind für sie theologisch fundamental. »Nur durch Sprache ist die Wirklichkeit unserem Bewußtsein gegenwärtig und im Maße unserer Möglichkeiten verfügbar«, und jeder von uns verwendete »sprachliche Ausdruck .. enthält Elemente ursprünglicher Berührungen mit der Wirklichkeit« (21). Theologie definiert M. als »eine systematische Nachfrage nach der Wirklichkeitsbeziehung des Wortes ðGottЫ (23). Damit partizipiere die Theologie an der Macht und Ohnmacht der Sprache. Theologie habe der Frage nachzugehen, wie das alle menschliche Erfahrung und Begriffe transzendierende Wort »Gott« ausgesagt werden kann. Das sei dem Menschen und seinen Erfahrungs- und Begriffskonstrukten von sich aus nicht möglich. »Nur wenn diese Wirklichkeit (sc. Gott) selbst redend sich zu uns wendet, wenn er in unsere Geschichte eintritt, kann er uns auch zu einem begründeten Sprechen zu ihm und über ihn ermächtigen. Ein solches Sprechen, von Gott her und zu Gott hin, setzt .. seine Gegenwart voraus.« (370) Authentische Rede von Gott müsse sich im Horizont von Zweifel, Unglaube und Atheismus bewähren. Insbesondere gelingt es M., die theologische Indienstnahme des Atheismus jenseits von Verharmlosung oder Vereinahmung theologisch produktiv zu gestalten.

Christliche Theologie habe sich (vgl. Barmen 1) auf das eine Wort Gottes, das Jesus Christus exklusiv ist, auszurichten. Als Hörer des Wortes träten Menschen in das Kraftfeld des einen Wortes, das reformatio und renovatio ermögliche. Das Hören des Wortes dürfe nicht einseitig als rationale Information hinsichtlich unseres Selbstverständnisses gedeutet werden, es ergreife vielmehr als Lebensprozess unsere ganze Person mit ihren Denken, Sehen und Betasten. Dieses Hören auf das Wort sei Gemeinschaft stiftend.

Das authentische Gottes-Wort sei ein Wort, das auf Wahrheit und Wirklichkeit bezogen ist. Die unbedingte (also theologisch nichtsubstituierbare) theologische Voraussetzung, sei: »dass Gott gesprochen hat« (168 f.). Weiter gelte: »Jede Aussage über Gott kann nur dann wahr sein, wenn sie auf eine wirkliche Gottesbeziehung zurückgeht.« (175) Die Begegnung mit der Wirklichkeit sei die Basis für alle theologische Wahrheit. In den Gottesbegegnungen bzw. Gotteserfahrungen in unserer Welt sei die entscheidende Quelle theologischer Aussagen zu sehen. Sie westen aus der verborgenen Gegenwart des sich offenbarenden Gottes. Es komme auf ein theologisches Weltverständnis an, das heißt: die Welt und den Menschen von Gott her verstehen zu wollen. Durch das Wort Gottes sei der Mensch einerseits als der mit »der unerhörten Würde der Gottesebenbildlichkeit« durch Gott Begabte (238) zur Bewahrung und verantwortlichem Zusammensein mit anderem und anderen relational entfaltet. Anderseits stelle das Wort Gottes den sündigen flüchtigen Menschen auf seiner Flucht und weise ihn auf Neues.

Alle dogmatischen Loci, die M. in seinem Buch behandelt, werden einerseits in ihrer biblischen, dogmen- und theologiegeschichtlichen Verortung, anderseits ­ so weit als möglich ­ auch auf ihre philosophischen, soziologischen etc. Bezüge hin untersucht, wobei sich nicht nur zuweilen ein überraschender Kontext ergibt. Der fachwissenschaftliche dogmatische Diskurs wird herangezogen und produktiv verarbeitet, wenn hier auch zu Recht auf ein gesundes Maß reduziert. Erstaunlich breit und gekonnt eingeführt ist der Einsatz von literarischem Material aus der Dichtung (weniger aus der darstellenden Kunst), den M. vollzieht, um zu einem theologisch ausgewogenem Urteil zu kommen. Unterschiedliche theologische Positionen werden nicht konträr kaltgestellt, sondern so weit als möglich aufeinander bezogen. Diese Systematische Theologie M.s lädt, gegründet auf solides theologisches Fundament, zum Gespräch mit Mensch, Gott und Welt in theologischer Perspektive ein. Diese Einladung ist lehrreich und freundlich zugleich, so dass man im besten Sinn des Wortes theologisch gestärkt und belehrt dieses Buch aus der Hand legt. Es will in der Intention M.s dezidiert »kein Kompendium akademischen Wissens sein«, obwohl es das auch ist, »sondern eine Einführung in christliche Verstehensweisen und Lebensformen, die sich an jeden wendet, dem daran liegt, über den christlichen Glauben, ja über das Wesen der Religion überhaupt nachzudenken, auch und gerade .. an die ðGebildeten unter ihren VerächternЫ (5). Dieser Charakterisierung kann der Rezensent nur zustimmen, vielleicht mit der Relativierung, dass das »Wesen der Religion überhaupt« nur sehr marginal angegangen wird. Die Lektüre dieses Buches ist sowohl Studierenden, kirchlichen Mitarbeitern, Fachkollegen als auch dem an Mensch, Gott und Welt Interessierten zur oikodome zu empfehlen.