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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

54-56

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Speer, Andreas, u. Lydia Wegener [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart in Erfurt.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. XI, 612 S. m. Abb. gr.8° = Miscellanea Mediaevalia, 32. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-11-018583-6.

Rezensent:

Volker Leppin

In dem immer vielfältiger werden Tagungsbetrieb gibt es kaum noch Konferenzen, denen es gelingt, über das Ereignis selbst und den allfälligen Sammelband hinaus Impulse für die wissenschaftliche Forschung zu setzen. Einen solchen Ausnahmefall aber stellt die Tagung dar, die der Philosophiehistoriker Andreas Speer ­ damals Würzburg, heute Köln ­ im September 2003 anlässlich des seinerzeitigen Eckhartjahres in Erfurt veranstaltet hat: In einer bis in die überregionale Presse hinein wahrgenommenen Dichte wurden hier die unterschiedlichen, gelegentlich mit gegenseitigen Wahrnehmungsdefiziten belasteten Stränge der Eckhartforschung aus Geschichte, Philosophie, Germanistik, Theologie und anderen Disziplinen zusammengeführt und vernetzt. Sichtbarer Ausdruck dessen, dass diese Tagung auch wissenschaftsstrategisch von Erfolg gekrönt war, ist die in ihrer Folge geschehene Gründung der Meister-Eckhart-Gesellschaft.

Dass die Interdisziplinarität tatsächlich mehr war als eine Addition, dass gemeinsame Fragestellungen in ein fruchtbares Gespräch miteinander gebracht wurden, dokumentieren die 27 Beiträge des nun vorliegenden Sammelbandes, die, durchweg von hohem Niveau, an dieser Stelle nur exemplarisch gewürdigt werden können.

Wie mühsam die konkrete Erfassung des Erfurter ‘uvres trotz der weit fortgeschrittenen Eckhart-Ausgabe immer noch ist, machen drei bestens ausgewiesene Eckhart-Editoren deutlich: Georg Steer (34­55) zeigt, wie auf Grund von Handschriftenbefunden und intertextuellen Bezügen eine annähernde Rekonstruktion von Eckharts Erfurter Predigttätigkeit vor allem auf Grundlage der schon lange hierfür verwandten, aber im Detail immer noch manche Frage aufwerfenden Sammlung »Paradisus anime intelligentis« möglich ist. Freimut Löser (56­74) analysiert Handschriftenfunde der letzten beiden Jahrzehnte und zeigt, wie nicht nur die Textrekonstruktion Eckharts gegenüber der kritischen Ausgabe hierdurch noch verbessert werden kann, sondern Eckhart sogar neue Texte zugewiesen werden können ­ selbst eine Predigt, die man wegen ihres schematischen Aufbaus »auf den ersten Blick für ðuneckhartischÐ halten würde« (65). Und Loris Sturlese bietet einen Beitrag, der den bei ihm üblichen Charakter philologisch präzise gestützter Kritik an etablierten Auffasungen trägt (393­408) und aus einer Analyse des »Paradisus« und der Parallele der lateinischen Sammlung von Eckhart-Predigten im Cusanus-Codex 21 auf die mögliche Existenz eines nach dem Kirchenjahr geordneten Corpus deutschsprachiger Predigten Eckharts schließt.

Von den in den vergangenen Jahren in solcher Differenziertheit vorangebrachten philologischen Befunden geht Speer (3­33) in seinem einleitenden Vortrag aus und zieht in beeindruckender Weise systematische Folgerungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Datierung der Anfänge des »Opus tripartitum« durch Sturlese in die Erfurter Zeit, die eine scharfe Abgrenzung der Erfurter Tätigkeit von Eckharts Wirken an der Universität Paris nicht erlaubt. Eckharts »Projekt« wird nach Speer in diesen Werken erkennbar als eine Einheitsmetaphysik, in der die Gegensätze von Theologie und Philosophie ebenso zusammenfallen wie Lehre und Ethik. Damit wendet Speer sich nicht nur gegen Versuche, mittelalterliche Philosophie in Gegensatz zur Theologie zu rekonstruieren (27), wie sie sich insbesondere im Kontext der Flasch-Schule finden, sondern macht zugleich deutlich, dass Eckhart in seinem Anliegen gerade nicht als metaphysischer Neuerer zu verstehen ist, sondern als Vertreter einer »ðalte[n]Ð Metaphysik« (26). Dass der mit solchen Beiträgen verbundenen inhaltlichen Aufwertung der Erfurter Zeit durch die jüngere Forschung möglicherweise auch eine institutionelle Basis entspricht, legt Helmut G. Walther nahe (75­94), wenn er unter Eckhart wenigstens ein »Präjudiz für Erfurt als Standort des Generalstudiums der Saxonia« vermutet (91).

Dass die neuen Befunde der Philologie eine genetische Betrachtung von Eckharts Werk nicht überflüssig machen, zeigt Burkhard Hasebrink mit seinem vorsichtigen Plädoyer für eine Abhebung der in mehreren Beiträgen untersuchten, zwischen 1294 und 1298 entstandenen »Rede der unterscheidunge« vom Spätwerk (122­136), insofern in ihnen die Prozesshaftigkeit der Heiligung gegenüber einer präsentischen An- und Zusage von Heil und Wahrheit in den späteren Predigten dominiere (135). Selbst wenn man diese Befunde nicht genetisch, sondern situativ auf Grund der spezifischen Lehrsituation des Priors in Erfurt deutete, treten sie doch in produktive Spannung zu dem beeindruckenden Versuch von Jan A. Aertsen, den »Systematiker« Eckhart zu rekonstruieren (189­230), dessen Originalität Aertsen vor allem in dem »ganzheitliche[n] Anspruch« (201) der These »Esse est Deus« sieht (195 f.). Dieser gedanklich hochkonzentrierte Ansatz besitzt am Ende aber möglicherweise weniger argumentative Integrationskraft als die stärker auf der historischen Forschung aufbauenden Beiträge, die wie Aertsen auch für eine Zusammenschau der unterschiedlichen Facetten Eckharts plädieren, darin aber mehr Raum für Akzentuierungen lassen.

Nicht nur hier besteht Raum zur weiteren methodischen Diskussion, sondern auch bei dem Beitrag von Erik A. Panzig (335­355), der für die Eckhartschen Sprachschöpfungen »gelâzenheit« und »abegescheidenheit« sprachliche Entsprechungen in lateinischen Texten nachweist. Die Analysen von Nadia Bray (409­426) zu deutschen Bibelzitaten in den Predigten Meister Eckharts werfen jedenfalls implizit gewichtige Anfragen an Panzigs Methode auf: Wenn Eckharts Übersetzungen tatsächlich schon »zusammenfassender Ausdruck von Eckharts exegetischer Analyse« sind (415), dann ist der Weg vom lateinischen Lexem zur Semantik des deutschen Lexems um einiges komplizierter, als es Panzigs Rede von einer »Grundlegung« der deutschsprachigen Theoreme »in den lateinischen Texten« suggeriert (338) ­ ja, es wird überhaupt fraglich, ob die Richtung vom Lateinischen ins Deutsche die für das Eckhartverständnis angemessene ist. Welche Bedeutung eine genaue Betrachtung der deutschen Sprache für ein auch theologisch angemessenes Verständnis besitzt, zeigt der Vergleich Eckharts, Taulers und Seuses durch den Altmeister amerikanischer Mystikforschung Bernard McGinn (538­553).

Unter methodischen Gesichtspunkten von besonderem Interesse ist der im wahrsten Sinne des Wortes weiterführende Beitrag von Jeffrey F. Hamburger (473­537), der ein aus der philologischen Eckhartforschung kommendes Problem ­ die Eriugena-Rezeption Eckharts ­ in einem breiten kulturgeschichtlichen Zugriff behandelt, der die weite Verbreitung direkter und indirekter Eriugena-Rezeption in der Schrift- und Bildwelt des späten Mittelalters aufzeigt und Eckhart darin sehr vorsichtig verortet.

Neben den vielfältigen Rekonstruktionen Meister Eckharts selbst und seines Umfeldes gehörte zu den besonderen Schwerpunkten der Erfurter Tagung auch die Frage der Rezeption Eckharts: Nikolaus Largier macht seinen schon anderwärts gemachten Ansatz, den »Paradisus« als Ausdruck theologisch kohärenter Rezeption zu lesen, anhand des Konzeptes der »Gottesgeburt« deutlich (298­313) und zeigt so, wie fruchtbar es ist, wenn die Betrachtung der Eckhart-Überlieferung über die Rekonstruktion des Ursprungstextes hinaus auf die Eigenbedeutung der Überlieferungszeugen geht. Ein besonders interessanter Beitrag schließlich stammt von einem russischen Nachwuchsforscher: Mihail Khorkov (587­600), der sich bereits durch die Übersetzung mittelhochdeutscher mystischer Texte ins Russische einen Namen gemacht hat, zeigt im vorliegenden Band auf, wie sich in der Eckhart-Rezeption Mystik und Augustinismus ineinander verschlingen. Das könnte für die neu begonnene Diskussion zur Wirkung der deutschsprachigen Dominikanermystik auf die frühe reformatorische Theologie von Bedeutung sein und helfen, hier falsche Alternativen zu vermeiden.

Es steht zu hoffen, dass diese Hinweise auf einen Teil der Aufsätze ausreichen, das Interesse an seiner Lektüre zu wecken. Die Eckhartforschung kann von ihm noch auf Jahre hinaus profitieren.