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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

44-46

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Most, Glenn W.:

Titel/Untertitel:

Doubting Thomas.

Verlag:

London-Cambridge (Mass.): Harvard University Press 2005. XVII, 267 S. m. Abb. 8°. Lw. £ 18,95. ISBN 0-674-01914-8.

Rezensent:

Titus Nagel

Im abendländischen Kulturkreis ist der »ungläubige Thomas« sprichwörtlich geworden ­ er ist jener hartnäckige Zweifler, der sich erst durch die Berührung der Wundmale Jesu davon überzeugen ließ, den Auferstandenen vor sich zu haben. Und auch wenn ein Blick in die neuere Kommentarliteratur zum JohEv hierzu eines anderen belehren könnte, hat sich diese Berührung ­ nicht zuletzt durch die Vermittlung der Malerei ­ tief in das allgemeine kulturelle Bewusstsein eingegraben. Dem in Italien und in den USA lehrenden Altphilologen M. gibt dieses Phänomen den Anstoß, den neutestamentlichen Ursprüngen und den literarischen wie bildnerischen Spuren der johanneischen Thomaserzählung nachzugehen, und dabei gleichzeitig ­ der Titel des Buches kann »ungläubiger Thomas« oder »Thomas anzweifeln« bedeuten ­ nach den Bedingungen von Glauben und Zweifel, von Verstehen und Missverstehen als Grundkonstanten menschlicher Kommunikation zu fragen.

So eröffnen und beschließen grundsätzliche (»Seeing and Believing«, 3­11) und speziell auf die Figur des Thomas und seine Nachwirkungen abgestellte (»Afterword«, 223­226) hermeneutische Überlegungen zum Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Für-wahr-Halten den zweigeteilten Band, der einen lehrreichen und faszinierenden Einblick in die Werkstatt eines Philologen (und Exegeten) bietet, denn M. nähert sich seinen Texten mit den mittlerweile klassischen Werkzeugen der synchronen Textanalyse und der Leerstellenanalyse des reader-response critisism (er nennt sie »rhetorical«, »literary« und »psychological«, 7 f.), die er virtuos handhabt.

Im ersten Hauptteil analysiert M. »The Textual Basis« (1­73). Den Hintergrund der johanneischen Thomaserzählung erblickt M. in den Schlusskapiteln der Synoptiker, und zwar im Hinblick auf die Erzählstrategie, mit der die Evangelisten versuchen, ihre Leserschaft von der Auferstehung Jesu zu überzeugen. Ihre Versuche lassen jedoch Fragen offen: Reicht es, wenn im längeren Mk-Schluss Jesus am Ende den Unglauben tadelt (Mk 16,11.13.14)? Warum eröffnet Lk die grundsätzliche Möglichkeit der haptischen Prüfung des Auferstehungsleibes (Lk 24,39), die dann aber nicht realisiert wird? Wieso bringt Mt in 28,16 die Notiz vom Jüngerzweifel, obwohl er doch eine triumphale Epiphanie des Auferstandenen schildert (12­27)? Vor diesem Hintergrund wendet sich M. dann der narrativen Analyse von Joh 20 zu, wo die erzählerischen Mittel der Synoptiker »are repeated, and indeed are greatly intensified« (28) ­ ob Joh die Synoptiker kannte, bleibt dabei offen. Während die Synoptiker bei ihrer Darstellung auf der Ebene von »Sehen und Glauben« verbleiben, fügt das JohEv mit der Einführung der Gestalt des Thomas die Dimension von »Berühren und Glauben« hinzu, und zwar um die Thematik des Zweifels zu verschärfen und schließlich einer endgültigen Lösung zuzuführen. Thomas, der die ultimative Form des Zweifels äußert (Joh 20,25), formuliert dann das ultimative Bekenntnis (Joh 20,28). Interessant ist nun, wie es dazu kommt und wie Joh dabei die Aporie löst, die die Forderung des Thomas für die Logik der Erzählung aufwirft. Sie besteht bekanntlich darin, dass ein materieller Körper ­ und nur ein solcher könnte berührt werden­ nicht durch verschlossene Türen gehen kann (Joh 20,19.26). Auf der literarischen Ebene lässt Joh den materiellen Status Jesu bewusst offen, denn Thomas verzichtet darauf, dessen Angebot anzunehmen: M. zeigt, dass die Verwendung von apokrínesthai in V.28 eine narrative Lücke, in der eine Berührung stattgefunden haben könnte, ausschließt (58 f.). Und nur so kann auch die Intention der Thomasperikope ans Ziel kommen, nämlich die Leser, die Jesus nicht sehen und berühren können, zum Glauben zu führen (63). Warum Thomas ohne Berührung des Auferstandenen das Bekenntnis aussprechen kann, ergibt sich für M. im Zusammenhang mit Joh 1,43­49 und 20,14­16: Wie die Begegnungen Jesu mit Nathanael und mit Maria zeigen, ist dem Menschen die Erkenntnis des Göttlichen im JohEv nur möglich, wenn das Göttliche zuvor den Menschen erkannt und angesprochen hat, und genau dies geschieht auch mit Thomas (53 f.). Gleichwohl sagt Joh nicht explizit, dass Thomas Jesus nicht berührt habe, und an diese Leerstelle knüpft ein breiter Strom der nachfolgenden Thomas-Traditionen an, denen der zweite Hauptteil des Buches gewidmet ist.

Dieser (»Responses and Developments«, 77­226) besteht genau genommen aus zwei Teilen: Nach »Sources and Reflections« (77­81; hier finden sich Überlegungen zur Herkunft des Thomas-Motivs im JohEv und zur Namensetymologie) erörtern die Kapitel »Narrative Developments: the Apocrypha and Beyond« (82­121) und »Exegetical Reactions: From the Church Fathers to the Counter-Reformation« (122­154) die literarischen Nachwirkungen der Thomasperikope, während die Kapitel »Pictorial Versions: Thomas and Sacred Images« (155­214) und »The Holy Finger« (215­221) die ikonographischen Thomas-Traditionen und die römische Thomas-Reliquie aus der Basilica de Sante Croce in Gerusalemme betrachten.

M. unterscheidet für die literarischen Nachwirkungen zwischen den narrativen (apokryphe Thomas-Literatur; Aufnahme von Thomas-Motiven in den Apokryphen) und den exegetischen (vor allem Kommentarliteratur) Interpretationen der Thomasperikope, wobei er zu letzteren überraschenderweise auch 1Kor 15 zählt, da die Korinther mit ihrer Ablehnung der Auferstehungsvorstellung auf »oral (and perhaps also written) reports of Jesus¹ resurrection that must have run more or less along the lines of John¹s later account« (127) reagiert hätten. Insgesamt lassen sich zwei Linien ausmachen: Zum einen halten die nichtgnostischen apokryphen Texte, die Kirchenväter und die katholischen Exegeten bis in die Zeit der Gegenreformation hinein an der Berührung durch Thomas fest. Die Weichen für diese »orthodoxe« Lesart scheinen in der frühen Auseinandersetzung mit der doketistischen Thomas-Rezeption gestellt worden zu sein (130­132); später läuft die Exegese fast durchweg in den durch die Väterautoritäten vorgegebenen Bahnen. Einzig der 553 mit dem Anathema belegte Origenes hatte die nicht vollständige Materialität des Auferstehungsleibes erwogen (138). Zum anderen sind die gnostische Thomas-Rezeption und die reformatorische Johannesauslegung durch die Ablehnung der Berührung verbunden. Zum gnostischen Prototypen konnte Thomas werden, weil man seinen (richtig gesehenen) Verzicht auf die Berührung Jesu zum einen doketistisch deutete (der Auferstandene hatte keinen materiellen Leib) und zum anderen als Hinweis darauf wertete, dass nicht ein sinnenfälliger Beweis Thomas zum Glauben brachte, sondern (geheime) Belehrung Jesu (86­105). Den Reformatoren mit ihrem sola-scriptura-Prinzip hingegen war die überkommene Kommentarliteratur suspekt, und nach dem christozentrischen sola-fide-Prinzip interessierte sie weniger die Tat eines Apostels, sondern vor allem das Wort Jesu (145­149).

M. hat einen beachtenswerten Beitrag zur Wirkungsgeschichte eines johanneischen Textes vorgelegt, in der sich theologie-, kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Entwicklungen spiegeln. Seine für eine breitere Leserschaft bestimmte Untersuchung ist gut und spannend zu lesen. Eine Dezimalgliederung der Kapitel hätte der besseren Orientierung gedient; der Verzicht auf Fußnoten wird kompensiert durch »Bibliographical Essays« (229­256) zu den einzelnen Kapiteln am Ende des Buches, das auch durch Register erschlossen wird.<