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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

42-44

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meiser, Martin:

Titel/Untertitel:

Judas Iskarioth. Einer von uns.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 196. S. m. Abb. 8° = Biblische Gestalten, 10. Kart. EUR 14,80. ISBN 3-374-02215-4.

Rezensent:

Matthias Rein

»Historisches Wissen kann den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu nicht verifizieren; aber es kann wesentlich dazu beitragen, dass geklärt wird, was der Glaube glaubt.« (Th. Söding) Der Erlanger Neutestamentler Martin Meiser will klären, wer die Person Judas »wirklich« war und wie ihr Handeln und Verhalten zu verstehen ist. Dazu dient ihm die Unterscheidung zwischen historischen Ereignissen um Judas und ihrer Deutung durch die Evangelisten. Die historische Rückfrage lässt zwar Fragen offen, kann aber dennoch als kritische Instanz zur Überprüfung verschiedener späterer Deutungen des Judas (9 f.) dienen. Um die Gestalt des Judas historisch zu verstehen, so M., ist sie mit der Gestalt des historischen Jesus in Beziehung zu setzen. Über die Befragung der synoptischen Texte nach dem historischen Geschehen hinaus ist der Rahmen möglicher Szenarien durch das Nachzeichnen damaliger Zeitgeschichte, Mentalitäten und das, was über Jesus zu sagen ist, abzustecken (28). An den Anfang seiner Untersuchungen stellt M. fünf Assoziationen, die den theologischen Horizont des Geschehens um die Person Jesu und ihre Deutung aufzeigen (gut und böse; Gott ­ Verräter ­ Kreuzestod; Judentum; Schuld; Subversion, 11­19). Ausgehend von Mk 14,43 bestimmt M. den historischen Kern der Judas-Überlieferung: »Ein bestimmter, namentlich bekannter Judas, von Jesus in den Kreis der zwölf Jünger berufen, spielte bei der Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane eine unrühmliche Rolle.« (27) Sein Beiname (Mk 3,19) weist auf die Herkunft aus Kerijoth in Judäa hin (36). Seine Funktion im Jüngerkreis (vgl. Joh 12,6) bleibt historisch unklar (47). Am Ende des Wirkens Jesu distanzierte sich Judas von Jesu Selbstanspruch und dem Verhalten der Jünger und benannte dem Sanhedrin Ort und Zeitpunkt, wo Jesus ohne Aufruhr im Volk gefangen zu nehmen war (51.57). Er nahm am letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern teil (68­71). Nach seiner Tat kehrte er nicht mehr in den Jüngerkreis zurück (28.99). Er starb nach Jesu Gefangennahme, nicht an dessen Todestag, die Todesursache ist unbekannt (99). Sein Tod wird mit dem Namen eines bestimmten Grundstücks (vgl. Mt 27,8; Apg 1,18) in Verbindung gebracht.

M. verweist bei seinen historischen Rekonstruktionen auf die Gefahr, auf Grund theologischer Projektionen historische Ereignisse zu konstruieren (z. B. 97 f.). Um dieser Gefahr zu entgehen, beschränkt er sich auf die Beschreibung des historisch Wahrscheinlichen und nimmt in Kauf, manche Fragen offen lassen zu müssen (z. B. nach der Historizität des Kusses, 85­87). Von den historischen Ereignissen deutlich abgesetzt zeichnet M. das je theologisch pointierte Bild des Judas in den Evangelien nach (Unglaube des Judas Joh 6,64.70; Geldgier Mt 26,14; Verführung durch den Satan Lk 22,3 u. a.). In dieser deutlichen Unterscheidung liegt die Stärke seiner Darstellung. Sie trägt dazu bei zu klären, »was der Glaube glaubt«.

Auch im Falle des Judas ist aber zu fragen, in welchem Zusammenhang historisches Ereignis und theologische Deutung stehen. Bei den Synoptikern wird von Judas nie unter Absehung von seiner Tat gesprochen. Diese wird als »übergeben/ausliefern« (paradidonai) bezeichnet und steht in direkter Verbindung mit der historisch weit zurückführenden Tradition vom letzten Mahl (1Kor 11,23b). Hatte das inhaltlich schillernde paradidonai (42.44) auch auf der historischen Ebene eine theologische Bedeutung? M. weist darauf hin, dass in der LXX paradidonai sowohl Gott als auch andere als Subjekt haben kann (44). Auf historischer Ebene des Lebens Jesu habe aber paradidonai nur die Bedeutung von übergeben/ausliefern im juristischen Sinn. Die Bedeutung »verraten« (Lk 6,16) sei erst später hinzugekommen (49) und Mk 14,18­20 zeige, »dass es dem Evangelisten nicht um ein Detail der Erinnerung an ein Ereignis aus dem Leben Jesu geht, sondern um die gegenwärtige Wirklichkeit der durch Denunziation aus den eigenen Reihen gefährdeten Gemeinde« (69). Die Deutungen der Evangelisten entfalten somit weniger die theologischen Potenziale der historischen Überlieferung, als dass sie ihre theologischen Kontroversen auf die historische Ereignisebene zurückprojizieren. M. E. ist nicht auszuschließen, dass auch die ältesten Überlieferer die Doppelbedeutung des paradidonai sahen, Judas und Gott bewusst als mögliche Subjekte des Verbs nebeneinander stellten und historische Ebene und spätere theologische Deutung durchaus inhaltlich verbunden sind. Zu denken gibt dabei Gnilkas Kommentar zu Mk 14,17­20: »Der theologische Charakter der Erzählung zielt nicht auf das ab, wie es eigentlich gewesen ist, sondern auf den Hintergrund des Geschicks Jesu insgesamt. Die Erzählung ist darum in einem tieferen Sinn geschichtlich.« (EKK II/2, 238)

M.s Ausführungen zur Wirkungsgeschichte (112­187) unterstreichen die theologische Brisanz des Judas-Themas bis heute: Der Verräter wurde von Jesus selbst berufen, er gehört zu den engsten Vertrauten Jesu, mit ihm teilt er Brot und Wein. Jesus weiß um seine Absicht und lässt es geschehen. Damit setzt sich die Wirkungsgeschichte auseinander und geht dabei manche Irrwege.