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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

40-42

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lierman, John:

Titel/Untertitel:

The New Testament Moses. Christian Perceptions of Moses and Israel in the Setting of Jewish Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XIV, 368 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 173. Kart. EUR 64,00. ISBN 3-16-148202-6.

Rezensent:

Dieter Sänger

Im Neuen Testament wird Mose häufiger erwähnt als jede andere Gestalt der biblischen Vorzeit. Hinzu kommen zahlreiche Anspielungen, wobei die Grenze zwischen vagen Motivanklängen und planvoll rezipierter Überlieferung oftmals fließend ist. Das frühchristliche Interesse an Mose ist nicht historisch oder biographisch, sondern theologisch bestimmt. Mit ihm verbundene Traditionen begegnen fast ausschließlich im Kontext christologischer Aussagen. Entsprechend konzentrierte sich die bisherige Forschung vornehmlich darauf, Herkunft und Umfang der in den einzelnen Schriften bzw. Schriftengruppen rezipierten Moseüberlieferung zu ermitteln und das in die Texte eingeschriebene Beziehungsverhältnis zwischen Mose und Jesus auf dem Hintergrund des zeitgenössischen jüdischen Moseverständnisses zu klären.

Die vorliegende Studie ­ es handelt sich um eine revidierte Fassung der von W. Horbury betreuten Dissertation L.s (Cambridge 2002) ­ geht andere Wege und verfolgt ein anderes Ziel. Während nach exegetischer Mehrheitsmeinung die verschiedenen Formen der neutestamentlichen Moserezeption im Dienst der Christologie stehen und ihren distinktiven Charakter reflektieren, versteht L. sie als einen eigenständigen Beitrag innerhalb der frühjüdischen Diskussion über Funktion und Bedeutung des Mose. Sachliche Voraussetzung der von L. entwickelten neuen Perspektive ist also die (nicht weiter problematisierte) Arbeitshypothese, das Neue Testament stelle nicht nur eine wichtige Quelle für die Erforschung des antiken Judentums dar, sondern sei auch selbst in den Rahmen der jüdischen Literatur einzuordnen. Unter dieser Prämisse wird danach gefragt, wie und auf welche Weise die neutestamentlichen Autoren das Verhältnis Moses zu Israel und zum jüdischen Volk wahrnehmen. Die Antwort lautet (damit nehme ich das Ergebnis vorweg): Der sich im Neuen Testament spiegelnde Diskurs lässt erkennen, dass die in einem jüdischen Milieu situierten frühen Christen auf Mosetraditionen zurückgegriffen und an sie angeknüpft haben, um mit ihrer Hilfe den Glauben an Jesus Christus zur Sprache zu bringen.

Statt wie zumeist üblich eine Auswahl zu treffen und exemplarisch vorzugehen, weitet L. die Untersuchung auf das gesamte Neue Testament aus. Darüber hinaus werden alle jüdischen Schriften einbezogen, die in seinem zeitlichen Umkreis entstanden sind. Später zu datierende Makroformen (Targumim, samaritanische und rabbinische Literatur) finden ebenfalls Berücksichtigung, sofern das von ihnen gebotene einschlägige Material altes Traditionsgut enthält. Weil L. primär daran interessiert ist, die Verwendungsbreite der zur Debatte stehenden Motivkomplexe aufzuweisen, verzichtet er bewusst auf das Nachzeichnen historischer Entwicklungslinien. Entsprechend ist die Darstellung rein thematisch orientiert, und zwar unter Einschluss aller zuvor genannten Zeugnisse. Ihre inhaltlichen und formalen Besonderheiten, denen eine diachrone Analyse Rechnung zu tragen hätte, bleiben daher außer Betracht.

Nach einer komprimierten Einführung, in der L. sein Programm umreißt (1­10) und den Ertrag der jüngeren Forschung resümiert (10­29), wendet er sich im 2. Kapitel dem Verständnis des Mose als Prophet zu (32­64). Was im Alten Testament präformiert erscheint (Num 12,6­8; Dtn 18,15.18; 34,10; Hos 12,14), hält sich im nachbiblischen Schrifttum durch. Mose gilt als der Prophet schlechthin. Dieser Rolle konzeptionell zugeordnet ist seine Funktion als Mediator und Wundertäter. Das Neue Testament nimmt beide Attribute auf (Apg 3,22 ff.; 7,22; Gal 3,19; Hebr 9,19 u. ö.). Der die Gestalt Mose kennzeichnende Konnex von prophetischem Anspruch und wunderbaren Zeichen, die diesen Anspruch legitimieren, findet sich auch in Bezug auf Jesus (Lk 7,16; 24,19; Joh 6,14).

Das 3. Kapitel präsentiert Mose als Priester und göttlichen Gesandten [»Apostle«] (65­78). In der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung sind beide Zuschreibungen weniger häufig und nicht so breit gestreut, aber doch vorhanden. Vor allem die samaritanische Literatur verbindet sie miteinander (MemMarq 2 § 9; 4 §§ 6.14­16). Obwohl Hebr 3,1­6 die Titel à¼Þ Ô Ô und à ¯ für Jesus reserviert, impliziert der Vergleich mit Mose, dass dieser ebenfalls als »Gesandter« und »Hoherpriester« gilt. Im Neuen Testament ist der hier begegnende christologische Gebrauch von à¼Þ Ô Ô singulär. Dies lässt vermuten, dass samaritanische Mosetradition auf Hebr 3,1­6 eingewirkt hat, nicht umgekehrt.

Das 4. Kapitel befasst sich mit »Mose als König« (79­123). Nirgends wird Mose im Alten Testament das Prädikat »König« verliehen. Das geschieht allenfalls indirekt (Ex 4,20; Dtn 33,5). Aus Dtn 18,15 entwickelte sich jedoch später die in verschiedenen Varianten anzutreffende Erwartung, der eschatologische »Prophet wie Mose« sei zugleich ein König. So stattet der Tragiker Ezechiel Mose mit königlichen Insignien aus (Diadem, Zepter) und setzt ihn auf einen Thron, von dem aus er die ganze Welt betrachtet (Z. 68­81). Damit avanciert Mose zum Vizeregenten Gottes. Freilich muss offen bleiben, ob man schon von seiner Divinisierung sprechen darf. Die Speisungsgeschichten Mk 6,30­44 und Joh 6,1­15 porträtieren Jesus als eine mit königlichen Zügen versehene »Mosaic messianic figure« (110). Darauf verweist eine Reihe von Anspielungen auf Motive der Exodustradition (Berg [Joh], Hirte, Schafe [Mk]). Weitere Indizien für die Adaption der Mose-König-Vorstellung im Neuen Testament liefern Apg 7,35 und wiederum Hebr 3,1­6.

Der folgende Abschnitt (Kapitel 5) ist dem Thema »Mose als Gesetzgeber« gewidmet (125­173). Grundsätzlich gilt: Mose erscheint im Alten Testament und Judentum als Gesetzesmittler. Umso auffälliger ist, dass in Dtn 4,13 f. differenziert wird. Während die Zehn Gebote unmittelbar von Gott stammen (V. 13), gebietet er Mose, dem Volk die übrigen »Gebote und Rechtsvorschriften« zu verkünden (V. 14). Diese Unterscheidung veranlasst Ps.-Aristeas, Mose selbst zum Urheber der Gesetze zu erklären (Arist 130­171). Noch weiter geht Philo. Er attestiert dem Legislator Mose eine »independent authority in the making of the law« (133). Das Neue Testament reflektiert die in Dtn 4,13 f. angelegte doppelte Perspektive. Analog zur rabbinischen Literatur dominiert im JohEv und bei Paulus der funktionale Aspekt; hingegen heben die synoptischen Evangelien ­ besonders das LkEv wie auch die Apg ­ stärker Moses »personal authority« (173) hervor.

Das mit »Baptism into Moses« überschriebene 6. Kapitel (175­208) fokussiert die Mosetypologie in 1Kor 10,1­4 und speziell V. 2. Die dortige Wendung »alle ließen sich auf Mose taufen« referiert auf die Proselytentaufe und ist der Sache nach vorpaulinisch. Sie spiegelt eine bestimmte Form jüdischer Frömmigkeit, die in Mose eine »unifying and spiritual figure« für Israel erblickt (207, vgl. 176). Der Gedanke einer mystischen Einheit zwischen dem Archegeten Mose und seinem Volk findet sich nicht nur in der alexandrinischen Literatur (Philo), sondern auch in Schriften, deren Verfasser palästinischer Herkunft sind (Josephus, AssMos, LAB). Paulus hat ihn aufgegriffen und im Blick auf sein Taufverständnis christologisch transformiert.

Der letzte thematisch orientierte Abschnitt beleuchtet zentrale Aspekte der Moseverehrung (209­257). Die pharisäische Selbstbezeichnung als »Schüler Moses« (Joh 9,28) und die Integration der Beschneidung in das mosaische Ethos (Apg 15,1) zeigen, dass jüdische Identität untrennbar mit Mose verbunden ist. Der Verstoß gegen seine Gesetze erfüllt analog zur Gotteslästerung den Tatbestand der Blasphemie (Apg 6,11, vgl. Josephus, Bell 2,145.152). Wie die Weisheit ist er präexistent und der Schöpfung vorgeordnet (AssMos 1,14). Überhaupt enthält die zeitgenössische Sicht auf Mose eine Tendenz, ihn zu divinisieren. Bei Philo ist dieser Schritt vollzogen (Mut 128, vgl. Ex 7,1). Er steht nicht allein, wie zumindest 4Q374 II 2 und Ps.-Orpheus 21­46 (bei Euseb, PraepEv XIII 12,5) belegen. Auf der gleichen Linie liegt, dass Mose zum Objekt des Glaubens werden kann (Ex 14,31[LXX]; Joh 5, 46 f.; MekhY zu Ex 14,31 u. ö.).

Im 8. Kapitel »Points of Contact with Christology« (258­288) werden die bisherigen Ergebnisse noch einmal konzentriert gebündelt und im Blick auf das Neue Testament ausgewertet. Den Abschluss bilden Überlegungen zu den hermeneutischen Implikationen der frühjüdischen Moserezeption für die neutestamentliche Christologie (289–­294).


In einem hat L. sicher recht. Die neutestamentlichen Mosetraditionen sind jeweils eigenständig zu gewichten und erfordern eine differenzierte Behandlung. Dass sie primär als ein Interpretament der Christologie fungieren, ist eine zwar plausible, aber keineswegs aus sich heraus evidente Vermutung. Sie muss in jedem Fall argumentativ unterfüttert und am konkreten Beispiel exegetisch verifiziert werden. Allerdings verfährt L. nicht viel anders als die Mehrheit der von ihm kritisierten Forschung, nur eben unter der Voraussetzung, dass »Christology must from the first have been undertaken with the strongest possible consciousness of Moses, and with explicit borrowing from Moses to describe Christ« (293).

Dieser Ansatz impliziert, ob gewollt oder nicht, eine Verengung der Wahrnehmungsperspektive. Denn er rechnet mit einer rein affirmativen Bezugnahme der neutestamentlichen Autoren auf Mose und seine Traditionen. Alternative Optionen bleiben von vornherein ausgeklammert. Spätestens hier erweist sich der Grundentscheid, auf eine traditionsgeschichtliche Analyse der in Frage stehenden Motivkomplexe zu verzichten, als kontraproduktiv. Die Möglichkeit, dass sie intentional als Kontrastmoment aufgeboten werden und textpragmatisch dazu dienen, Jesus von Mose betont abzusetzen, wird nicht nur ignoriert, sondern auf diese Weise methodisch unterlaufen. Wohl auch deshalb blendet L. manche Probleme, die sich ihm in den Weg stellen, allzu rasch aus. Beispiel: Ps.-Orpheus 21­46 zieht er als Beleg für die Divinisierung des Mose heran. Sollte aber der Subjektwechsel in Z. 31 im eigentlichen Sinne des Wortes theologisch motiviert sein, wie vielfach angenommen wird, verliert der Text seine Beweiskraft. Zudem ist der im jüdischen Bereich nur schwach ausgeprägte Gedanke, Mose sei der Schöpfung voraus, mit der im Neuen Testament bezeugten Vorstellung von der Präexistenz Jesu Christi und seiner Wesenseinheit mit Gott gerade nicht kompatibel. Auch verliert L. kein Wort darüber, wie der Glaube an den gekreuzigten Christus sich seiner These einfügt, da er im zeitgenössischen Judentum gleich welcher Schattierung nirgends präformiert ist. In entscheidenden Punkten wird man statt von Konvergenzen von erheblichen Differenzen sprechen müssen.

Eine schlüssige Antwort auf die Frage, warum streng monotheistisch denkende Juden(christen) Jesus mit göttlichen Attributen versehen und das Verhältnis von Gott und Jesus durch analoge Formulierungen im Sinne einer wesenhaften Zusammengehörigkeit präzisiert haben, ist m. E. auf dem von L. beschrittenen Weg nicht zu gewinnen. Dennoch stellt seine materialreiche Studie einen wichtigen Beitrag zur frühjüdischen und neutestamentlichen Moserezeption dar. In exegetischer wie hermeneutischer Hinsicht provoziert sie Widerspruch. Aber sie regt auch dazu an, die Bedeutung des Mose im Kontext der frühchristlichen Reflexion über Person und Werk Jesu erneut zu bedenken und ihre katalytische Funktion wohl höher zu veranschlagen, als es weithin geschieht. Das ist gewiss nicht wenig. Ausführliche Register erschließen das Buch vorzüglich.