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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

38-40

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Käsemann, Ernst:

Titel/Untertitel:

In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners.

Verlag:

Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass hrsg. v. R. Landau in Zusammenarbeit m. W. Kraus. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. IX, 328 S. 8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 3-16-148747-8.

Rezensent:

Walter Klaiber

In diesem Sammelband wird der Text von 25 Vorträgen, zwei Bibelarbeiten und zwei Predigten veröffentlicht, die Ernst Käsemann (1906­1998) zwischen 1975 und 1988 gehalten hat. Entgegen den Angaben im Untertitel sind keine »Aufsätze« enthalten; dies zu bemerken ist wichtig, weil alle Texte mehr vom Pathos öffentlicher Rede als von der abwägenden Haltung eines wissenschaftlichen Diskurses geprägt sind. Der zweite Teil enthält Texte, die K. für den in Aussicht genommenen zweiten Band von Kirchliche Konflikte vorgesehen hatte (Käsemann, Ernst: Kirchliche Konflikte, Band 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982).

Die Herausgeber hätten als Untertitel dieses Buches auch »Thema mit Variationen« wählen können. Denn wie immer das Thema der einzelnen Vorträge heißen mag, in allen geht es um das gleiche Grundthema der Theologie des späten K.: Zentral ist die Bedeutung des ersten Gebotes, und zwar als Zielbestimmung für die menschliche Existenz und als Verheißung Gottes, den Menschen zu diesem Ziel zu bringen. Das geschieht dort, wo Gott durch Jesus Christus seine Herrschaft aufrichtet, Menschen von der Herrschaft der Dämonen und Götzen befreit und so in der Rechtfertigung des Gottlosen sein rettendes Recht durchsetzt und die Menschen zurechtbringt. Gott ist in Jesus Christus nicht deswegen zu den Menschen gekommen, um die Frommen noch frömmer zu machen, sondern um sich zu den Armen und Entrechteten zu stellen, um das Joch der Besessenheit und Unterdrückung zu zerbrechen, Beziehungen zu heilen und Menschen zu befähigen, die Vielfalt ihrer gottgegebenen Gaben füreinander und für andere zu leben. Unverwechselbares Kennzeichen dieses Handelns Gottes ist Jesu Weg zum Kreuz und sein Sterben zwischen den Verbrechern, ein Geschehen, das durch seine Auferstehung nicht aufgehoben, sondern in Geltung gesetzt ist. Der Tod Jesu hat für K. keine soteriologische Bedeutung im engeren Sinne; wohl aber begründet Jesu Weg ans Kreuz, im Sinne von Phil 2,5­11, das Heil der Welt, weil sich in ihm offenbart, wem die Herrschaft in dieser Welt gehört. Christliche Existenz kann folglich nur »in der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners« geschehen, wie es der für den Band gewählte Titel treffend formuliert. (Dass K. von Jesus fast ausschließlich als vom »Nazarener« spricht, hat einen eigentümlichen Signalcharakter. Es wäre interessant zu analysieren, welche Konnotationen sich damit verbinden.) Das ist dann auch der Ausgangspunkt für die durchgehende Kritik an einer verbürgerlichten Kirche und insbesondere an der »Kirche des weißen Mannes«, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und sich in der Pflege individueller Frömmigkeit ergeht, statt zu Gunsten der Armen, der Hungernden und der gequälten Kinder in der Welt aufzustehen und aufzubrechen, um Gottes Gaben mit ihnen zu teilen.

Dieses Grundthema ist auch schon in Band 1 von Kirchliche Konflikte präsent, aber in den hier gesammelten Vorträgen noch viel einliniger und konsequenter durchgeführt. Es erscheint als die Summe einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Evangelium, als Botschaft, die unter allen Umständen auszurichten ist, und als das ceterum censeo eines alten Mannes, der noch einmal seine Stimme gegen die vielen Fehlentwicklungen erhebt, die er in der Kirche erlebt hat und sieht.

Wie jeder musikalisch Kundige weiß, ist die Gattung »Thema mit Variationen« durchaus nicht ohne Reiz. So auch in diesem Buch. K. lässt sich durchaus auf die einzelnen Themen und Texte ein. Er kann auch differenzieren. So sagt er in dem Vortrag Das Evangelium und die Frommen: »Das Neue Testament kennt eine echte Frömmigkeit ..« (131), um dann doch zu konstatieren, dass bei Paulus »die Unterscheidung von Evangelium und Frömmigkeit geradezu Mitte der Theologie wird« (137). Es ist spannend mitzuverfolgen, wie K. von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten immer wieder zu dem einen Thema kommt, das wie ein Ostinato alle Variationen durchzieht und für ihn die Mitte der Schrift darstellt, auf die auch sehr unterschiedliche biblische Zeugen verweisen. Die historischen Unterschiede treten zurück gegenüber der sachlichen Einheit, die K. zwischen Exodusgeschehen und Jesusgeschichte und von Matthäus über Johannes bis zu Paulus feststellt, selbst wenn gelegentlich auch eine sachkritische Bemerkung zum 3. Johannes oder 2.Petrus fällt. Dazu tritt als Konsequenz das Plädoyer für eine Kirche, die sich in der Nachfolge Jesu zu den Armen und Entrechteten stellt und sich auch politisch gegen weltweites ökonomisches Unrecht einsetzt.

Natürlich lassen sich demgegenüber Fragen stellen. Welche biblischen Themen von grundsätzlicher Bedeutung blendet K. aus? Sind seine Analysen der Situation von Kirche und Gesellschaft nicht manchmal zu holzschnitthaft und stereotyp? (Kirchenleitungen z. B. scheinen grundsätzlich auf dem falschen Weg zu sein.) Aber das sollte uns nicht daran hindern, auf das zu hören, was K. zu sagen hat und mit sprachlicher Brillanz und sachlicher Schärfe formuliert. Vieles bleibt weiter aktuell. Man wird das Buch kaum am Stück lesen können, aber sich immer wieder den einen oder anderen Vortrag als Impuls zum Nachdenken vornehmen. Ein Stichwort- und ein Bibelstellenregister helfen die einzelnen Beiträge zu erschließen. Den Herausgebern und ihren Helfern und Helferinnen ist für Herausgabe und sorgfältige Gestaltung des Buches zu danken.