Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1345–1347

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hauptmann, Peter:

Titel/Untertitel:

Rußlands Altgläubige.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 378 S. m. 47 Abb. gr.8°. Geb. Euro 39,90. ISBN 3-525-56130-X.

Rezensent:

Karl Christian Felmy

Peter Hauptmann will mit diesem Buch zu wachsender »Achtung vor dem russischen Volk und seiner hohen Kultur« beitragen (9), zu der die Altgläubigen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Man könnte noch andere Gründe nennen: Die Denkweise russischer orthodoxer Christen ist ohne den Schock der verunglückten Reformversuche Patriarch Nikons und den Widerstand des Altgläubigentums nicht zu verstehen. Der christliche Osten rechnet eben insgesamt nicht mit beliebiger Austauschbarkeit der Formen, in denen sich der christliche Glaube Ausdruck verschafft (26). Insofern zeigt das Altgläubigentum nur besonders konsequent eine Haltung, mit der westliche Chri sten bei der Begegnung mit allen orthodoxen Christen rechnen müssen.

H. konstatiert einleitend das bisherige »Fehlen einer Gesamtschau des russischen Altgläubigentums« (10), wie er sie in diesem Buche anbiete. Der An spruch ist nicht zu hoch. Eine solche Darstellung wie die vorliegende gab es bisher noch nicht. Sie konnte auch nur von einem Theologen geschaffen werden, der sich wie H. ein ganzes Leben lang mit den unterschiedlichsten Aspekten des Altgläubigentums auseinandergesetzt hat und der ihre Treue zur altrussischen Überlieferung nicht als ver stiegenen Konservatismus abtut, sondern bereit ist anzuerkennen, dass die »einzigartige Bedeutung des russischen Altgläubigentums« nachgerade »in ihrer gelebten Verbin dung von Treue zur überlieferten Frömmigkeit, Leidensbereitschaft um dieser Fröm migkeit willen und Anpassungsfähigkeit an die neue Umwelt« (15) ­ aber Anpas sung mit dem Ziel der Wahrung der Tradition ­ besteht. Bei der Darstellung der Ursachen und Anfänge der Kirchenspaltung des 17. Jh.s kann H. deutlich machen, dass es nicht um den Gegensatz von Reformern auf der einen und beharrender Kräfte auf der anderen, d. h. der altgläubigen Seite ging, sondern um je unterschiedliche Reformkonzepte auf beiden Seiten: um eine von der Vorstel lung von Moskau als dem Dritten Rom und der Treue zu den Entscheidungen der Hundertkapitelsynode von 1551 geprägten Ausrichtung notwendiger Reformen an der rus sischen Tradition auf Seiten der Altgläubigen und der teilweise zwanghaften Nachahmung griechischer Entwicklungen auf Seiten des Patriarchen Nikon, der, weil Russland das Christentum von den Griechen empfangen hat, alles Griechische eo ipso für ur sprünglich hielt.

Nikon begann seine Reformen damit, dass er in einem Neudruck des Psalters von 1653 die Verringerung der Zahl der Großen Metanien beim Gebet Ephräms des Syrers in der Großen Fastenzeit auf vier anordnete. Obwohl diese Bestimmung den Kreis der Eiferer für die altrussische Frömmigkeit, aus dem die Führer der späteren Altgläubigen stammten, gera dezu schockte, spielte sie keine so große Rolle wie die Änderung des Kreuz zeichens vom Zwei- zum Dreifingerkreuz, das von der Hundert kapi tel syn ode (Stoglav) mit dem Anathema belegt worden war (27). Der antiochenische Diakon Paul von Aleppo, der seinen Vater, den Patriarchen Makarios, in den Jahren 1652­1656 auf sei ner Reise nach Russland begleitete, stellte den noch bestehenden Unterschied bei der Zahl der Metanien fest, ohne sich darüber zu erregen (Putesestvie Antiochijskogo patriarcha Makarija Š, Moskva 2005, 348). Auch dieses Beispiel zeigt, dass H. zu Recht auf die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Reformen bei den Altgläubi gen wie auch bei den Parteigängern Nikons verweist.

Nach den Anfängen des Altgläubigentums (Kapitel 2 »Veränderung und Beharrung«) behandelt H. in Kapitel 3 die in sich widersprüchliche, aber historisch notwendige Verbin dung von »Bewahrung und Anpassung« als grundlegende Elemente des Altgläubigen tums, vor allem in seiner priesterlosen Gestalt. Ist schon dieses alles noch nie zuvor so differenziert herausgearbeitet und zugleich so klar zusammengefasst worden wie in die sem Buch über »Rußlands Altgläubige«, so liefert H. in Kapitel 4 erstmals eine geschlos sene Darstellung der »Herausbildung [unterschiedlicher altgläubiger] Kirchentümer«.

Die Geschichte der Verfolgung des Altgläubigentums teilt H. einleuchtend in sieben Epochen ein. Absolut frei waren die Altgläubigen nur in der kurzen Zeit zwischen 1905 und 1918. Nach den schweren Verfolgungen in sowjetischer Zeit, in der sie als Angehörige der besonders verfolgten Schichten freier Kaufleute und Bauern noch stärker litten als andere Christen und wohl auch stärker dezimiert wurden, genießen die Altgläubigen seit der Wende unter Michail Gorbacëv erst zum zweiten Mal in ihrer Geschichte für eine bisher noch nicht sehr lange Zeit volle Religionsfreiheit, dies freilich unter vor allem wirtschaftlich sehr viel schwierigeren Bedingungen als in der Zeit nach 1905.

Nicht weniger verdienstvoll als die sehr differenzierte Darstellung der Lage des Altgläubigentums in der russischen Geschichte bis zur Gegenwart ist die detaillierte Vorstellung ihrer unterschiedlichen Zweige in Kapitel 4, wobei H. die verbreitete An sicht widerlegt, das Altgläubigentum sei in besonders viele untereinander zerstrittene Grup pen zerfallen. Zieht man bedeutungslose kleinere Gruppierungen ab, so gibt es nur den Grundunterschied zwischen Priesterlichen und Priesterlosen, wobei H. zu Recht den Begriff einer Spaltung verwirft, weil eine Spaltung eine zuvor bestehende und erst dann gelöste Einheit voraussetzt (113). Den Priesterlichen gelang es, auf leider ge trennten We gen, zwei Hierarchien zu errichten: die Hierarchie von Belaja Krinica mit einem Metropoliten als Oberhaupt sowie eine zweite Hierarchie, deren Zentrum lange Zeit in dem kleinen Ort Novozybkov lag, neuerdings aber ­ ungeachtet ihrer sehr klei nen Mitgliederzahl ­ mit einem Patriarchen von Moskau an der Spitze. Diese beiden Hierarchien haben bis heute keine eucharistische Gemeinschaft untereinander. Bei den Priesterlosen, die die offizielle Kirche als so verderbt betrachteten, dass sie die apostolische Sukzession der Ämter in ihr für unterbrochen hielten, gibt es zwar eine sehr viel größere Zahl von selbständigen Gruppierungen. Diese bilden aber insofern eine Einheit, als sie heute alle in Gebetsgemeinschaft untereinander stehen.

In den folgenden Einzeldarstellungen werden die Geschichte, die wichtigsten Führergestalten und gegenwärtigen Verhältnisse der wichtigsten altgläubigen kirchlichen Ein heiten vorgeführt.

Neben einer grausamen Verfolgungsgeschichte gibt es vor allem in jüngerer Zeit auch einige positive Berührungen zwischen dem Altgläubigentum und der Russischen Orthodoxen Kirche. Die Gründung der »Eingläubigkeit« (Edinoverie) zu Beginn des 19. Jh.s war zwar von Verfolgungen der Mehrheit der Altgläubigen begleitet, die der Verlockung, in tolerierten Gemeinden des Alten Ritus in der Einheit mit der Staats kirche zu leben, widerstanden. Immerhin bedeutete sie eine gewisse Anerkennung der alten Riten, die 1667 noch verworfen worden waren. Die Aufhebung der Bannflüche gegen die Altgläubigen vom Jahre 1971 durch das Moskauer Patriarchat hat ­ nach den schweren Verfolgungen der früheren Zeiten verständlich ­ noch nicht zu größerer Annäherung geführt, kann gleichwohl in ihrer grundsätzlichen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das gilt kaum weniger für das Rundschreiben der Russischen Orthodoxen Auslandskirche vom Oktober 2000 mit der erstmals geäußerten Bitte um Vergebung.

Zumindest zwei der wichtigsten Vertreter des heutigen Altgläubigentums haben ihre theologische Ausbildung an einer der russischen Geistlichen Akademien erhalten und sich dort qualifizieren können: Den gegenwärtigen ersten Patriarchen der Russischen Altorthodoxen Kirche Aleksandr (Kalinin) hat der Rezensent 1997 in der Moskauer Geistlichen Akademie gesehen, wo er als Mönch Avdej ein Akademiestudium absolvierte. Der Ge meindeleiter der Rigaer altritualistischen Grebenscikov-Gemeinde Ioann Miroljubov hat an der damaligen Leningrader Geistlichen Akademie sogar eine Kandi datenarbeit verteidigen können und damit einen Grad erreicht, der in etwa einem west lichen Doktorgrad entspricht. Der Rezensent hat ihn wie H. als eine beeindruckende und theologisch hochgebildete Persönlichkeit erlebt. Die von H. geschilderten Streitigkeiten an der Rigaer Grebenscikov-Gemeinde, in die Miroljubov verwickelt war, haben nach der Veröffentlichung von H.s Darstellung dazu geführt, dass sich Miroljubov der »Eingläubigkeit« angeschlossen hat und damit in Gemeinschaft mit der Russischen Orthodoxen Kirche getreten ist.

H. beendet sein Buch mit Erwägungen zum Problem »Das russische Altgläubigentum vor der Wahrheitsfrage«. Er konstatiert: »Sein Festhalten an den alten Riten und sein Widerspruch ge gen zweifelhafte Reformen aus kirchen- oder staatspoli tischen Erwägungen halten der Wahrheitsfrage noch immer stand« (285). Auf der an deren Seite sieht er aber einen »folgenschweren Irrtum« in der Vorstellung der Altgläu bigen, dass die Kultusreformen Patriarch Nikons mit dem Antichrist in Verbindung stünden (284).

Auch so meisterhafte Bücher wie das vorliegende fordern zu gelegentlichen Korrekturvorschlägen heraus, unter denen ich die wichtigsten nenne. Offenbar falsch ist der Hin weis, altrussische Maler hätten »mit Eisenstiften« gemalt (89). Malen »plavjami« bedeutet: Malen »mit Pfützchen«, d. h. in einer Schmelztechnik, in der sog. »Lichter« dadurch geschaffen werden, dass sie auf eine Wasserpfütze (plav¹) so aufgetragen werden, dass die obere helle Farbe mit der unteren dunklen übergangslos verschmilzt. Abwegig ist der Gedanke, der Verzicht auf die Eucharistie sei den priesterlosen Altgläubigen dadurch erleichtert worden, dass dem orthodoxen Gläubigen bei der Kommu nion nur eine sehr kleine Brotpartikel gereicht werde. Meine Beobachtungen gehen vielmehr dahin, dass Menge und Größe des eucharistischen Brotes sich kaum von denen einer abendländischen Hostie unterscheiden. Würde es sich so verhalten, wie H. ver mutet, hätte wegen des reduzierten Gebrauchs von Wasser die Taufe im Abendland jede Bedeutung verloren, was keineswegs der Fall ist. Viel einleuchtender ist die Erklärung, dass die Priesterlosigkeit angesichts der schlechten Versorgung des russischen Nordens mit Priestern schon weitgehend eingeübt war. Dass diese Erklärung richtig ist, zeigt die Tatsache, dass es priesterlose Altgläubige zunächst fast nur im russischen Nor den gab.

Das großartige Werk H.s, vielleicht sein bestes Buch, gewinnt durch Zeittafel und Register, vor allem aber durch den beigefügten Bildanhang mit seinen in teressanten Fotos, die der Verlag getrost ein wenig aufwändiger hätte reproduzieren können, an Anschaulichkeit.