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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1334 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dressler, Bernhard:

Titel/Untertitel:

Unterscheidungen. Religion und Bildung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 205 S. 8° = Forum Theologische Literaturzeitung, 18/19. Kart. Euro 18,80. ISBN 3-374-02416-5.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Nicht nur das Bildungsthema »boomt« seit dem »PISA-Schock«, sondern auch das Religionsthema, seitdem die gesellschaftliche Wirkung religiöser Orientierungen auch von beharrlichen Sä kularisierungstheoretikern und Neutralitätspredigern nicht mehr ernsthaft bestritten werden kann. Dabei wird Bildung in Sachen Religion jedoch häufig auf eine vermeintlich politisch korrekte »Werteerziehung« oder auf eine Art Nachhilfestunden in Sa chen Aufklärung ­ die man selbst bereits »hinter sich« zu haben beansprucht ­ reduziert. Solchen gefährlichen Vereinfachungen setzt Bernhard Dressler seine religiöse Bildungstheorie entgegen, die gleichermaßen von den grundlegenden Unterscheidungen in Luthers Theologie (Rechtfertigung, Zwei-Regimenten-Lehre) wie von den systemtheoretischen Un terschei dungen der spätmodernen Ausdifferenzierungsprozesse in der Allgemeinen Pädagogik (vor allem bei Dietrich Benner) profitiert.

Das führt zu tiefgreifenden Einsichten, deren Tragweite für die Praktische Theologie und Religionspädagogik kaum zu überschätzen ist: So vertritt D. die These, dass das Säkularisierungsparadigma keinesfalls einfach vom Individualisierungs- und Pluralitätsparadigma beerbt werden kann (34­42 sowie 108­114). Es geht stattdessen viel umfassender um die interne Reproduktion der Ausdifferenzierung im Religionssystem selbst: Dieses kann nur noch unterscheidend (zwischen Religion und Glaube) und unter Anerkennung des Verzichts auf Monopolansprüche bei der Weltinterpretation funktionieren (38). Das Differenzierungsparadigma ist damit zugleich anspruchsvoller und chancenreicher als das Pluralisierungsparadigma, weil das Letztere eine Art von soziologischem Automatismus suggeriert (dem man mit Selbstrelativierung zu begegnen habe). Der Unterschied zwischen Selbstrelativierung und Selbstunterscheidung aber liegt in dem Maße, in welchem der religiösen Praxis Dignität zugemessen wird. Selbstunterscheidung ist fähig zur religiösen Praxis, weil sie diese nicht ohne Distanzierungsmomente denken will. Daraus ergibt sich bei D. die entscheidende di daktische Konsequenz, dass ­ jeweils reflexiv gebrochene ­ religiöse Praxis bildungstheoretisch nicht nur förderlich, sondern auch unverzichtbar ist. Denn erst aus der Binnensicht heraus kann sich eine Religion über sich selbst aufklären: »Insofern kann man annehmen, dass es Fundamentalisten aller Provenienz nicht nur an religiöser Bildung, sondern gerade auch an religiöser Praxis mangelt. Es ist ein Missverständnis, Religionen wären umso harmloser, je mehr man sie auf ein bloßes Ideen- und Wertegerüst reduziert« (146).

Der Argumentationsweg zu diesen Konsequenzen ist klar und leicht nachzuvollziehen: Nach dem grundlegenden Einleitungskapitel zur Konjunktur des Bildungsbegriffes und zur Gegenwartssignatur (9­58) folgt der Kern des Buches, in dem das Gespräch mit der Allgemeinen Pädagogik und mit der Theologie ge führt wird (59­160), bevor die religionspädagogischen Lernformen und Lernorte ins Blickfeld rücken (161­205).

Religion wird als ein notwendiger Bereich schulischer Bildung geltend gemacht, weil die spätmoderne Selbstunterscheidungsnotwendigkeit in diesem Fach in besonderer Weise gefordert ist und weil der Religionsunterricht darüber hinaus auch »die Übergänge nachbildet, die das Verhältnis zwischen den Fä chern be stimmen« (201). Die Pointe der Argumentation D.s liegt dabei in der Einsicht, dass die Religion diese weitgehende bildende Funktion nur unter Einschluss ihrer Praxisform erreicht: »Bei der Fä higkeit, sich in der sozialen Wirklichkeit von Religion(en) zu rechtzufinden, geht es um mehr als um Gesinnungen, Wissen oder die Fä higkeit, sich sachgerecht zu religiösen Themen äußern zu können« (181). Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Subjektivität der Lernenden nicht als eine isolierte missverstanden werden darf, weil »Religion auch in religionstheoretischer und theologischer Sicht angemessen nur unter Einschluss ihrer kulturellen Objektivationen und Handlungsmuster zu verstehen ist, also nicht nur als Gesinnungs- und Bewusstseinsphänomen« (ebd.).

Diese Position führt zu bemerkenswerten Differenzierungen im Diskurs zu Bildung, Religion und Religionsunterricht (während die Gemeinde als Lernort [165­171] deutlich in den Hin tergrund tritt). Die individuelle Bildsamkeit und Selbstfähigkeit einerseits und die bildenden Gehalte der Kultur andererseits werden prinzipiell nicht gegeneinander abgegrenzt, sondern einander kategorial zugeordnet. Von Schleiermacher und Humboldt her wird dabei treffend formuliert: »Die Welt gilt nicht als Grenze, sondern als Medium zur Steigerung von Individualität« (26). Da Bildung weiterhin nicht mehr mit Traditionskritik zusammenfällt, verliert auch das »Bildungsdilemma« der Kirchen an Brisanz (58). Schließlich sind auch »Bildung« und »Erziehung« nicht (wie dies häufig geschieht) als konkurrierende Kategorien zu verstehen. Denn »Bildung« reflektiert den pädagogischen Prozess von den Aufgaben, »Erziehung« reflektiert ihn von der Kausalität des Wirkens her (115).

Das unterscheidende Denken bezieht sich bei D. besonders auch auf das Verhältnis von Schule und Leben. Entgegen dem verbreiteten Unmittelbarkeits- und Authentizitätsstreben wird hier die pädagogische Transformation gesellschaftlicher Wirklichkeit durch die Schule herausgestellt. Auf die »Künstlichkeit schulischen Lernens« ist nicht nur gezwungenermaßen zu insistieren, sondern aus dem sachlichen Grund, dass die Schule gerade darum bildet, weil sie »die Auflösung der unmittelbaren Einheit von Leben und Lernen« abbildet und so für die Realität kundig macht (174).

Schließlich unterzieht D. auch die schon fast »kanonischen« EKD-Texte zum Religionsunterricht und zur Bildung einer theoretisch präzisen Lektüre und weist darin rechtfertigungstheologische und didaktische Schwächen auf, die bisher so nicht gesehen wurden (190 zum Verhältnis von Würde und Handeln und 193 zur Gottesfrage als Kern des Religionsunterricht-Curriculums). In diesem letzten Abschnitt wird übrigens die jüngste Diskussion um die Bildungsstandards im Religionsunterricht vorsichtig positiv aufgenommen, so dass das empirisch Mögliche vom nicht Verifizierbaren unterschieden bleiben kann.

D. nimmt die wesentlichen Stellungnahmen zum Bildungsthema aus Wissenschaft und Kirche der letzten Jahre kritisch, aber fair urteilend auf und führt die in seinem Sinne bereits anderweitig entfaltete Position einer performativ-semiotischen Didaktik des Religionsunterrichts weiter. Die theoretische Modifikation des Pluralismusparadigmas als Differenzierungsparadigma, das in der Lage ist, das bleibende Wahrheitsmoment des Säkularisierungsparadigmas zu »beerben« (37), ist der Kern einer in sich stimmigen, von der Bildungstheorie über die Fachdidaktik reichenden Argumentationslinie. Die Lektüre des anspruchsvollen Textes dürfte den Diskussionen um Bildung und Religion auch außerhalb der wissenschaftlichen Kontexte gut tun. Bestechend ist dabei vor allem die begeisterte Nüchternheit, mit der die Pädagogik daran erinnert wird, »mit wem sie es zu tun hat: Mit Menschen ­ also weder mit Göttern noch mit Sachen« (69).