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Ausgabe:

April/1999

Spalte:

416 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schweizer-Vüllers, Regine

Titel/Untertitel:

Die Heilige am Kreuz. Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit.

Verlag:

Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1997. 302 S. m. 22 Abb. gr.8 = Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, 26. Kart. DM 65,-. ISBN 3-906757-98-6.

Rezensent:

Helga Neumann

Die Legende und die Gestalt der gekreuzigten Heiligen wird von Regine Schweizer-Vüllers mit den tiefenpsychologischen Methoden C. G. Jungs auf ihre Herkunft und Bedeutung für die Zeitgenossen untersucht. Am frühesten wird die Legende in dem niederländischen Kloster Oostbrock um 1450 faßbar. Sie besagt, daß eine Königstochter aus Portugal mit Namen Ontcommer den König von Sizilien heiraten soll. Da beide Königshäuser heidnisch sind, sie jedoch eine Christin ist, weigert sie sich und bittet ihren gekreuzigten Gott, dem sie sich anverlobt hat, um Hilfe. Darauf hin wuchs ihr ein langer Bart, wie einem groben, plumpen Mann, so daß sie von keinem mehr begehrt würde. Ihr Vater beschuldigte sie der Magie und ließ sie kreuzigen. In Neufahrn, im süddeutschen Raum, entstand um 1600 eine ganz ähnliche Legende um eine Königstochter mit dem Namen Kümmernis oder Wilgefortis. Sie wird ergänzt durch die Erzählung von einem Spielmann, der die Qual der Gekreuzigten durch sein Spiel mildern will. Zum Dank wirft sie ihm ihren goldenen Schuh herab.

Obwohl es sich um keine kunsthistorische Arbeit handelt, versucht die Autorin die notwendige Verbindung zu den bildlichen Darstellungen herzustellen. Dabei zieht sich wie ein roter Faden die Auseinandersetzung mit dem Buch von Schnürer, Gustav/Ritz, Josef: Sankt Kümmernis und Volto santo, Düsseldorf 1934, durch die Untersuchungen der Autorin. Der Volto santo im Dom zu Lucca zeigt den Gekreuzigten in langem gegürtetem Gewand, mit offenen Augen und einem langen Bart. Die heutige Figur stammt aus dem frühen 13. Jh., hatte aber ein weit älteres Vorbild. Der Volto santo war eines der berühmtesten Andachtsbilder des Mittelalters und Anziehungspunkt für viele Wallfahrer und Pilger. Unter der großen Anzahl der Wunderberichte und Legenden befand sich auch das Spielmann-Wunder, wie es für die hl. Kümmernis überliefert ist. Diese Tatsache veranlaßten Schnürer und Ritz zu der Annahme, da&szl ig; es sich bei der Wilgefortis-Kümmernis um eine mißverstandene Christusfigur handele, die in Anlehnung und Nachfolge des Volto santo entstand. Sch.-V.s folgt dieser Argumentation insoweit, als sie die bildlichen Adaptionen bei einigen Beispielen übernimmt. Doch zeigt sie eine ganze Reihe von Kreuzigungsbildern auf, die nicht dem Typ des Volto santo entsprechen, aber trotzdem später in eine weibliche Heilige am Kreuz uminterpretiert wurden. So übertrug man in Neufahrn, dem wichtigsten Wallfahrtsort der Heiligen, ihre Legende auf ein Christusbild aus dem 12. Jh., welches zwar in ein langes Gewand gekleidet ist, aber sonst keine ikonographischen Übereinstimmungen mit dem angeblichen Vorbild in Lucca aufweist. Auch die im ausgehenden Mittelalter entstandenen niederländischen Heiligenbilder zeigen keine Ähnlichkeiten. Nachdem die Autorin im ersten Teil des Buches die Bilder, den Kult und die Legenden der Heiligen untersucht hat, folgt in Teil eins und zwei die psychologische Ausdeutung. Sehr ausführlich wird der Begriff des kollektiven Unbewußten und der Begriff des Archetypus erläutert, wobei sich die Ausführungen mitunter doch allzuweit von dem eigentlichen Ausgangspunkt, der Legende der Heiligen, entfernen.

Als Ergebnis arbeitet sie zwei Wurzeln der Entstehung für Bild und Legende heraus: Die Heilige am Kreuz, wie sie in den Niederlanden und auch in Frankreich und Burgund seit dem 14. Jh. verehrt wird, ist Ausdruck einer mystischen Frömmigkeit der Zeit. Ihre Verehrung läßt sich sowohl in Hofkreisen wie auch bei Arbeitern nachweisen. Auch in religiösen Gemeinschaften, besonders in den Beginenhöfen, kennt und verehrt man sie. Sie steht für die Erfahrung menschlichen Leidens und war Antwort auf die dunkle Seite Gottes.

Die Erscheinung der Heiligen im süddeutschen Raum mit Zentrum in Neufahrn geschah erst im 16. Jh., zur Zeit nach der Reformation. Ihre Verehrung und die Verbreitung ihrer Legende wird von der Autorin als Versuch des Unbewußten, in der allgemeinen Desorientierung der Zeit sich ein neues Symbol, ein neues heiliges Bild zu schaffen, interpretiert. Es soll sich helfend und heilend gegen die kollektive Unsicherheit erweisen. Allgemein sieht sie in der Heiligen als weiblich-männliches Wesen die auf Gott gerichtete menschliche Seele.

Eine stärkere Straffung des Textes und der Methodik der Untersuchungen hätte das Lesen und das Nachvollziehen der Ergebnisse erleichtert.