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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1325 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.:

Titel/Untertitel:

Leiden und Böses. Vom schwierigen Um gang mit Widersinnigem.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 219 S. 8°. Kart. Euro 16,90. ISBN 978-3-374-02411-7.

Rezensent:

Notger Slenczka

Dass das Böse hinterlistig ist und es liebt, sich zu verstellen, weiß jeder Leser des Faust ­ und der weiß auch, dass das Böse ein komplexes Phänomen ist und man ihm noch nicht auf die Spur ge kommen ist, wenn man als ðdes Pudels KernÐ einen ðfahrenden ScholastenÐ identifiziert hat. Nach Ingolf U. Dalferth ist man aber auch dann nicht viel weiter gekommen, wenn Mephisto selbst auftritt, und auch dann noch nicht, wenn man als neuzeitliches Subjekt der Hypostasierung des Bösen den Abschied gibt und nur noch eines als dasjenige kennt, was ohne Abstriche für böse gehalten werden kann: den menschlichen Willen. Das Böse ist raffiniert und seine Camouflagen und Selbstverleugnungen dienen nach D. nur einem Ziel: vorzugeben, »etwas zu sein, obwohl es nichts ist. Š Es verbirgt, was es ist: Nichts, Vernichtetes und Überwundenes, und gibt vor, etwas zu sein, indem es anderes Böses wirken lässt, ohne dabei selbst in seiner Nichtigkeit wahrgenommen zu werden« (39 f.).

Dass das Böse etwas ðÜberwundenesÐ ist, ist eine theologische These, die auf den Schluss des Buches vorgreift. Dass das Böse genau darum nicht nicht, wohl aber nichts ist, ist der philosophische Niederschlag dieser These, den D. in fünf Kapiteln auszuweisen und zu sichern sucht, die insgesamt dem Zusammenhang und der Unterscheidung von Bösem und Leiden auf der Spur sind. Das erste Kapitel (A. Reden vom Bösen) bietet eine präzisierende Erhellung des Sinnes der normalsprachlichen Verwendung des Begriffes des ðBösenÐ und stellt die These auf, dass das Böse kein eigenständiges Phänomen ist, sondern immer ðanÐ etwas auftritt ­ als Beeinträchtigung einer Sinnerwartung.

Damit ist die klassische Tradition des Bösen als unselbständiges Phänomen, als privatio boni aufgenommen ­ doch mit solchen vordergründigen Verortungen wird man D. nicht gerecht. Er nimmt die großen Traditionen des Umgangs mit dem Bösen nicht nur auf, sondern verweigert sich auch ihren An geboten ­ so der Domestizierung des Bösen durch Mo rali sierung und der vorschnellen Unterscheidung von ðböseÐ und ðübelÐ oder ðmalum physicumÐ und ðmalum moraleÐ. ðBöseÐ ist ebenso wie ðgutÐ ein Orientierungsbegriff, der dem Sachverhalt ðnichts hinzufügtÐ, sondern der die Wahrnehmung eines Sachverhaltes für ein von ihm affiziertes Subjekt markiert. Das Böse ist nicht identisch mit dem Leiden, wohl aber ist das Leiden ein herausragender Ort der Erfahrung des Bösen ­ wie D. sagt: Es gilt, nicht das Leiden als Böses, sondern das Böse am Leiden zu identifizieren: ðLeidenÐ ist das Widerfahrnis der Beeinträchtigung des Lebens, aber nicht jede Beeinträchtigung des Lebens wird als böse ge wertet. Mit dem Bösen haben wir es da zu tun, wo das Leiden als sinnlose Schädigung des Lebens oder der Lebensmöglichkeiten wahrgenommen wird. Entsprechend bietet der zweite Teil des Buches (B. Leiden als Ort der Erfahrung von Bösem) eine Phänomenologie des Leidens bzw. der Deutungsangebote für den Zusammenhang von Leiden und Leben. Es kommt D. wieder darauf an, den Begriff des Bösen nicht dadurch zu moralisieren, dass man ihn zur Bezeichnung des für das Leiden Verantwortlichen reserviert; dem liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Frage nach dem Bösen, die sich mit dem Leiden stellt, eben nicht nur die Frage nach dem Verantwortlichen ist und dann zur möglichst weitgehenden Beseitigung des Leidens übergehen kann; vielmehr ist die Frage erst dann verstanden, wenn sie als Sinnfrage, das heißt, als Frage nach dem Bösen im Sinne der Frage nach dem Recht und Sinn des Leidens wahrgenommen ist­ und das ist eben eine Frage, die mit dem Projekt der Leidensminimierung nicht beantwortbar ist. Damit ist in der Tat der Frage nach dem Bösen ein gegenüber dem durchschnittlichen Verständnis neuer Ort zugewiesen: Das Böse ist weder eine metaphysische Macht noch ðbloßÐ die Qualität eines Willens, sondern eine bestimmte Struktur der Erfahrung des Widerfahrnisses von Leiden: Das Leiden, das sinnlos ist.

D. schreitet dann in ðC. Orientierende Un terscheidungenÐ die im Leiden angelegten Polaritäten ab und wendet sich mit den folgenden zwei Abschnitten den Weisen des Umgangs mit dem Leiden bzw. dem Bösen zu. Das Kapitel ðD. Reaktionen auf LeidenÐ zeichnet Strukturen des Umganges mit dem Leiden bzw. der Erfahrung des Bösen als Schritte auf einem Weg der Distanznahme und der Deutung der zunächst überwältigenden Leidenserfahrung nach. Er verortet die Gestalt des Tröstenden als Hilfe zur Neuorientierung des Lebens und macht dabei insbesondere auf die Funktion kultureller ðUmwegeÐ aufmerksam, die eben der Neuorientierung des Lebens dienen und die Integration des Leidens in einen »Horizont, in dem das Leiden nicht das letzte Wort hat« ermöglichen. In diesem Sinn stellen kulturelle Medien Sinnangebote dar, die das Leidenswiderfahrnis in einen Zeit- bzw. Zukunftshorizont einstellen und in einen individuellen Deutungsvollzug übernommen werden können.

Auf diesem Hintergrund profiliert D. den christlichen Um gang mit dem Leiden und dem Bösen (E. Deutungsstreit), der sich von den Versuchen, dem als Böses erfahrenen Leiden und damit dem Bösen einen Sinn abzugewinnen, dadurch unterscheidet, dass D. das Böse als von Gott Verneintes fasst, das darum auch in menschlichen Deutungsversuchen nicht mit Sinn zu füllen ist. Das Böse ­ die Sünde ­ kommt im christlichen Glauben nur als das von Gott Überwundene und Bewältigte unter dem Titel der Vergebung zur Sprache. Damit tritt die Gegenwart in die Spannung zwischen dem zum Vergehen be stimmten noch Wirksamen und dem Beginn einer neuen, aber noch nicht greifbaren Zukunft. Diese Situation entfaltet D. als Anfechtung und Leiden an Gott, als Verzweiflung an der nur als Zusage präsenten Zukunft angesichts der Übermacht der zum Vergehen bestimmten Gegenwart, und er skizziert den Sinn des Kreuzes Christi als Integration dieses Streites Gottes mit Gott in Gott selbst: als Manifestation der ðNächstenliebeÐ Gottes in der Auflösung des Gegensatzes zu Gunsten des Lebens und als Indiz der Unverrechenbarkeit dieses Guten mit den Wünschen des Menschen. Hier ist der Ort, an dem sich der Gewinn der Unterscheidung von Bösem und Leiden zeigt: »Nicht sie [die Ge schöpfe] definieren, was gut ist, sondern sie werden durch das definiert, was ihnen als Gutes zugespielt wird« und sie in einer »unvorhersehbaren und unerwartbaren Weise bereichert« (216).Es wäre Gegenstand weiterführender Untersuchungen, ob die Unterscheidung und Zuordnung von Leiden und Bösem so, wie sie D. vornimmt, sich nicht gegen den Sprachgebrauch vergeht, in dem durch das Schwergewicht des Sinnes von ðböseÐ doch immer wieder der böse Wille und damit die Schuldthematik prävaliert. Aber das Buch ist gerade im Blick auf seine sprachanalytischen und phänomenologischen Beschreibungen eine ausgezeichnete Hilfe für jede und jeden, der sich in differenzierter Weise mit dem Phänomen des Bösen auseinandersetzen will und die Sprachfähigkeit gewinnen will, die allein es ermöglicht, sich auf dem vielbefahrenen und von scheinbaren Selbstverständlichkeiten verstellten Gebiet so zu bewegen, dass ein Mensch einem anderen und weitergehend: ein Christ unter Rekurs auf die christliche Rede von Gott einem anderen zu einem Selbstdeutungsgewinn verhilft und so im eigentlichen Sinne Seelsorger und Seelsorgerin ist.