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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1323 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Berner, Knut:

Titel/Untertitel:

Theorie des Bösen. Zur Hermeneutik destruktiver Verknüpfungen.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. XII, 275 S. 8°. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-7887-2047-6.

Rezensent:

Tom Kleffmann

Der Anspruch, eine neue Theorie des Bösen zu entwerfen, ist nicht gerade bescheiden. Das Buch wird diesem Anspruch auch nicht gerecht, weil es nicht gelingt, die Ansätze einer Phänomenologie des Bösen und die Theologie des Bösen auf dem Boden einer Theorie wirklich zu vermitteln. Dennoch ist das Buch wegen seiner phänomenologisch eindringlichen, den theologischen Blick bereichernden Analysen empfehlenswert.Die Bochumer Habilitationsschrift ist folgendermaßen ge gliedert: Die Einleitung (1­22) stellt in lockerer Anknüpfung die wichtigsten Indikatoren in B.s Verständnis des Bösen als dessen Strukturmomente dar: Gemeinheit (d. h. die bewusste und lustvolle Erniedrigung des Andern), destruktive, asymetrische Machtverhältnisse, die Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Entziehen des Bösen und der tendenzielle Selbstbetrug seines Subjekts, dem ein Bewusstsein im Guten geradezu konstitutiv sein kann. Dabei wird hier wie in der ganzen Arbeit der phänomenologische Blick fokussiert zum einen auf die NS-Zeit, genauer: den Holocaust, zum anderen auf die Erscheinung des Bösen im Kreuzesgeschehen.

Es folgen drei bzw. vier größere Teile. A) bringt eine Interpretation Paul Ric¦urs, die ersten Aufschluss über die »Epigenese des Bösen« geben soll, sowie eine Darstellung der »Attraktivität des Bösen« nach Hannah Arendt. Die Detailinterpretationen bieten interessante Feststellungen zur Phänomenologie des Bösen, das Resümee (58­63) führt sie auf die bereits eingeführten Paradigmen zurück.Teil B) »Systematisierungen: Zur Erkenntnis und Hermeneutik des Bösen« ist auf den ersten Blick kaum einheitlich. Zu nächst wird die Frage, ob das Böse auf eine metaphysische Entität zurückzuführen ist, sozusagen auf eine in sich reflektierte teuflische Substanz, verneint (65­79). Die in der Theologiegeschichte bezeugte Vermutung einer solchen Entität wird u. a. durch die »aposteriorische Erkenntnis des Bösen« (71 u. ö.) erklärt, die die Annahme eines verborgenen Wesens provoziert. Das Wahrheitsmoment liege darin, dass »eine spezifische Struktur als Böses« zu bezeichnen sei, die zwar von Subjekten betrieben wird, aber nicht auf ihre bösen Taten zu reduzieren ist (vgl. 78). Hier wäre etwas von der klassischen Erbsündenlehre zu lernen gewesen ­ es ist schade, dass B. sich mit diesem Schatz theo logischer Begriffsarbeit kaum auseinandersetzt (vgl. nur ganz kurz 115). Im Einzelnen sollen »Beispiele für gemeine Konstellationen analysiert werden« (65). Dabei versucht B. auf der Suche nach jener Struktur traditionelle Dichotomien zu unterlaufen, die das Böse unterschätzen, indem sie es undialektisch identifizieren. Das gilt sowohl für die Polarität von »Zivilisation und Barbarei« als auch für die Polarität von »Affektivität und Rationalität« (80­100). Außerdem machen die »Synergien von Subjekt« und sozialem »System« die »Zurechenbarkeit des Bö sen« fraglich ­ hier findet sich ansatzweise eine Auseinandersetzung mit Kants Begriff des Bösen (100­116). Eine Frage an B. ist an dieser Stelle, ob nicht die Notwendigkeit von Verantwortung um fassender ist als die psychologische Frage der Zurechenbarkeit.

Nachdem nun verschiedene humanwissenschaftliche Kategorisierungen des Bösen als unzulänglich kritisiert sind, tritt un vermittelt die Theologie auf den Plan: die »Offenbarung Gottes sub specie contrarii«, d. h. am Kreuz Jesu, verkehrt »die Maßstäbe für die Erkenntnis des Bösen wie des Guten« (116­130; im Anschluss findet sich eine Interpretation von Ri 19 f.). Zwar wird hier eine spezifisch theologische, d. h. auf Offenbarung be ruhende (und deshalb für »antispekulativ« gehaltene) Erkennt nis des Bösen behauptet (vgl. 120.122.125). Doch führt das Gesagte über die bereits freigelegten Strukturmomente des Bö sen nicht hinaus. Die neue theologische Aussage besteht lediglich darin, dass Gott sich im Bösen als Feind und Besieger des Bösen offenbart (123 u. ö.). In diesem Abschnitt beginnt B. auch eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Sündenlehren (Chr. Ge strich, Chr. Frey, E. Jüngel u. a.). Doch reicht das nicht, um die in der christlichen Theologiegeschichte schon geleistete im mense Begriffsarbeit zur Frage der Erkenntnis des Bösen hinreichend fruchtbar werden zu lassen. Vielleicht ist das im gewählten Rahmen der Arbeit auch nicht zu leisten. Dann aber müsste sich diese Beschränkung in einem bescheideneren Anspruch der Arbeit niederschlagen. Dass »innerhalb der Theologie selber die Benennung ihrer Erkenntnisfundamente bezüglich des Bösen ein verbreitetes Desiderat« darstelle (118, vgl. 4), ist so eher als Schutzbehauptung zu werten. Darüber hinaus sehe ich einen Mangel der Arbeit darin, dass keine hinreichende Auseinandersetzung wenigstens mit den Hauptpositionen der christlichen Sündentheologie und ihrer Herme neutik stattfindet. Eine thematische Abgrenzung zum Sün denbegriff findet nur ganz en passant (121 f.) statt, ohne zu überzeugen. Das ist umso bedauerlicher, als sonst gerade die engagierte, auf intelligente Weise an den Phänomenen interessierte und offensichtlich zu höchstem Reflexionsniveau fähige Betrachtungsweise B.s noch weitaus mehr systematisch-theologische Frucht erwarten ließe.

Bei C) »Typologien: Theologisches Denken des Bösen« handelt es sich eigentlich um zwei getrennte Teile. Zunächst wird eine ausführliche, in sich geschlossene Interpretation des Be griffs des Bösen in der Theodizee von Leibniz gegeben (137­182). Die Darstellung ist sachorientiert; es kommt zu einer ausgewogenen Einschätzung der Relevanz der Leibnizschen Überlegungen, die in B.s Perspektive das Böse auf pelagianische Weise (vgl. 174) identifizieren und einordnen und dadurch in seiner destruktiven Tiefendimension verkennen. Es folgt eine etwa gleich lange Darstellung der »Erkenntnis des Bösen« in K. Barths Kirchlicher Dogmatik, die den Schlüssel für die theologische Perspektive der Arbeit B.s bietet (183­249). In ihrer offenbarungs- und insbesondere kreuzestheologischen Orientierung stellt Barths »Er kenntnis des Bösen« für B. »die Prämisse theologischer Urteilsbildung« dar (vgl. 186). Zu Recht werden theologisch etwa die ganzheitliche Präsenz von Sünde bzw. Nichtigem und die Unfreiheit des Menschen, sich selbst dem Guten zuzuwenden, hervorgehoben. Auf der anderen Seite wird erneut ein methodisches Problem deutlich: Zwar lassen sich die aufgezeigten Strukturmomente des Bösen auch in Barths Theologie des Nichtigen wiederfinden. Aber wenn theologisch »der epistemologische Weg von der Empirie zur Theorie Š in die Irre« führt (189) ­ wie verhält sich dann ihre Erkenntnis zum streng christozentrischen Er kenntnisansatz der Theologie Barths oder überhaupt zum An spruch menschlicher Wahrheit im Gottesverhältnis? Diese Frage wird nicht ausreichend geklärt. Für überzogen halte ich übrigens den Vorwurf, Barth sei »in eine gefährliche Nähe zu den Stereotypen« geraten, »derer sich die antisemitische Propaganda bedient hat« (204).

Es folgt eine kurze »Schlussbetrachtung« (251­257). Am wertvollsten scheint mir hier wiederum die Einsicht, dass sich das Böse womöglich gerade mit dem Selbstverständnis des Gutseins verbindet. Register sind nicht beigegeben.