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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1317–1319

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Essen, Georg, u. Magnus Striet [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Kant und die Theologie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 348 S. 8°. Geb. Euro 74,90. ISBN 3-534-16664-7.

Rezensent:

Wolfgang M. Schröder

Kants Theologiekritik zielt auf Theologiereform nach Vernunftmaßstäben. Gereizt, aber konstruktiv macht sie Front gegen dogmatistisch-rationalistische Gottesspekulation und religiöses Schwärmertum, aber auch gegen dogmatischen Atheismus. Kants Alternative ist ein erkenntniskritisch-transzendental grund gelegter Theologieaufriss, der gleich großen Abstand hält zu spekulativer Ontotheologie wie zu frommer Hermeneutik einer Offenbarung. Skizziert wird dieser Aufriss etappenweise und auf mehreren Ebenen: in Form einer Forschungs-, Moral- und Religionstheorie, in der Gott als »Ideal« oder »Postulat« eine tragende Rolle spielt. Einschlägige Texte sind zunächst die drei Kantischen Kritiken (1781­1790), welche allesamt in einer philosophischen Theologie sich vollenden; sodann Schriften wie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und Der Streit der Fakultäten (1798).

Ob Kants alternativer Theologieaufriss (der, ausbuchstabiert, wohl auf mehrere »Kantische Theologien«, nicht nur auf eine »Moraltheologie« mit Gott als Postulat hinausläuft) eher als Provokation oder als Inspiration für die etablierte Theologenzunft zu werten sei: Hierüber geht seit Kants Lebzeiten ein Streit­ quer durch die christlichen Konfessionen, mitunter darüber hinaus. Das Kant-Jahr 2004 hat eine überschaubare Neubelebung dieser Debatte erbracht. In diesem Kontext ist der von dem Dogmatiker Essen (Nijmegen) und dem Fundamental theo logen Striet (Freiburg i. Br.) edierte Sammelband zu sehen.

»Kant und die Theologie« ­ das ist, wie die Kundigen wissen, ein weites Feld. Gleichwohl: Kühn und ohne Zutat eines Untertitels setzen die Herausgeber gerade diese große Überschrift über einen Band, der doch nur Begrenztes leisten will. Die Einleitung stellt klar: Versucht wird lediglich ein »Brückenschlag« ­ vom »philosophiehistorischen Rückblick auf Kant« hin »zu zentralen systematisch-theologischen Fragestellungen Š, und zwar so, dass die Aktualität seiner Philosophie zum Ausdruck kommt. Š Und dies im Interesse einer christlichen Theologie, die sich von ihrer Verantwortung für das weitere Schicksal der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte nicht abermals dispensieren will« (10 f.). Dabei leitet arbeitshypothetisch die Idee, »Kants kritische Anverwandlung der metaphysischen Überlieferung« eröffne womöglich die Chance, »die Kluft zwischen Theologie und Philosophie, die seit Beginn der Neuzeit aufgerissen ist«, zu »überbrücken Š, wenn sich die Theologie positiv auf das von Kant auf den Weg gebrachte Subjekt- und Freiheitsdenken einlässt« (10). Es geht also um Brückenbau; indes auch mit »belastbarem« Material?

Der Band versammelt als Autoren acht Theologen und zwei Philosophen aus katholischen wie evangelischen Fakultäten in Deutschland und den Niederlanden. Die Anordnung der sehr unterschiedlichen Beiträge folgt einer nicht augenfälligen Ordnung. Ohne klare Untergliederung in Allgemeineres und Spezielleres stehen Beiträge zu Theologiemodellen neben solchen zu theologischen Einzelthemen.

Den Anfang macht Saskia Wendel mit einer Darlegung der Nicht-Naturalisierbarkeit des »Kantischen Freiheitsbegriffs« (13­45). Ihre Differenzierung Kantischer Freiheitsbegriffe (vgl. 16 ff.) mündet in die falsche These, Kant habe »die Freiheit allein als Willensfreiheit bestimmt« (35). Das verkennt mindestens das Wesen des Kantischen kosmologischen Freiheitsbegriffs. Wendels letztlich Programm bleibendes Grundanliegen scheint zu sein, der neurowissenschaftlichen Auflösung des Begriffs der Freiheit des Willens eine Kantisch inspirierte, aber auch Kant-kritisch revidierte Alternative entgegenzusetzen. Diese soll viererlei leisten: die Ermöglichung 1. der Selbstwahrnehmung des Subjekts als »verdankte Freiheit«, 2. der Deutung des Absoluten (»Gott«) als Subjekt, Person und absolute Freiheit, 3. der Deutung der Schöpfung als Akts einer unbedingten Freiheit, 4. der Kennzeichnung des Heilshandelns Gottes als Selbstmitteilung, Befreiungs- und Erlösungshandelns (vgl. 42­45).

Klaus von Stosch erörtert gründlich, wie »Transzendentaler Kritizismus und Wahrheitsfrage« (46­94) zusammenhängen. Dabei klärt er umsichtig, inwiefern eine nicht an Kants Moraltheorie, sondern an seiner Wahrheitskonzeption orientierte »kantische« Theologie möglich sei. Überzeugend gelingt ihm die Rekonstruktion der spezifisch Kantischen Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das systematisch-theologische Potential dieser Theorie verdiente nähere Ausarbeitung.

Sehr gelungen ist auch Christoph Hübenthals Aufsatz zur Rolle der »Autonomie als Prinzip« bei der »Neubegründung der Moralität bei Kant« (95­128). Lehr- und pointenreich ist seine Verhältnisbestimmung von Kantischem Autonomiekonzept und theologischer Ethik. Und zwar auch deshalb, weil sie tendenziöse neu(st)thomistische Fehldeutungen der Mo ral- und Glückstheorie Kants zurechtrückt.

Den Kant-kundigsten, sprachlich mit Abstand elegantesten, philosophisch-theologisch wohl auch ertragreichsten Text im Band hat Klaus Müller beigetragen. Dieser sucht und findet »Indizien für einen Subtext der Kantischen Theologien« in Kants Gottesbeweiskritik und praktischem Vernunftglauben (129­161). Müller präpariert das theologisch respektable Motiv hinter Kants Verabschiedung des Gott beweisen wollenden Denkens heraus: die Ablehnung einer argumentativen »Distanzfigur zwischen Gott und Mensch«, die auf ihre Weise sowohl die Freiheit zum Glauben als auch die Gottunmittelbarkeit und Gottesgegenwart für den Menschen aufhebt (161).

Magnus Striet diskutiert auf der Kontrastfolie Barthscher Theologie ausführlich die Aktualität von »Kants Projekt, in der Dimension menschlicher Vernunft dem Wesen von Religion seinen anthropologisch angemessenen Ausdruck zu geben« (167). Dabei bestimmt er pointiert auch die Grenzen der Kantischen Philosophie der Religion, namentlich der These von der Religion als »Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote« (162­186).

Georg Essen liest »Kants Neuansatz in der Subjektphilosophie« dezidiert (aber auch umfassend Kant-gemäß?) als einen »Abschied von der Seelenmetaphysik« und fragt nach den Implikationen dieser exemplarischen »Denkformtransformation« für die »Naturenlehre« moderner Christologie (187­223).

Knut Wenzel thematisiert in einem sehr lesenswerten Beitrag »Die Erbsündenlehre nach Kant« (224­250), Michael Murrmann-Kahl erörtert gründlich »Immanuel Kants Lehre vom Reich Gottes. ­ Zwischen historischem Offenbarungsglauben und praktischem Vernunftglauben« (251­274).cJean-Pierre Wils¹ Reflexion auf »Autonomie der Kunst und Transzendenz« (275­307) läuft auf die These hinaus, die »Ästhetik des Erhabenen bei Kant« stelle ein »Organ für Transzendenz« dar (306). Nun, wer mag hier widersprechen? Aber: Welche elaborierte Theologie lässt sich auf diese Einsicht gründen? Darüber wüsste man gerne mehr.

Den Abschluss bildet Michael Böhnkes programmatische Reflexion: »Š weil Religion [k]eine reine Vernunftsache ist. Vom Streit der Fakultäten zum Konflikt der Interpretationen. Universitätstheologie nach Kant« (308­346). Nach Böhnke liegt der komplementäre Forschungs- und Erkenntniswert der universitären Theologie darin, »Glauben und Zweifel so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Konfliktpartner sich als wechselseitig aufeinander angewiesen entdecken und das Ernstnehmen des jeweils anderen als unabdingbare Bedingung der Möglichkeit einer ðSelbst-AufklärungÐ einsehen können« (345). Das ist zeitlos richtig, aber durchaus auch eine spezifisch Kantische Pointe.

Insgesamt zeigt der Sammelband einen wichtigen Ausschnitt aus, nicht annähernd aber das ganze Spektrum von konstruktiven Ansätzen, die dem zeitgenössischen theologischen Dialog mit Kants Werk offenstehen. Unterbelichtet, beinahe ausgeblendet bleiben die hochinteressanten forschungstheoretischen Elemente des Kantischen Theologieaufrisses. Dessen unbeschadet ist der Band wegen einiger hervorragender Beiträge lesens- und empfehlenswert. Wohl auf schönste Weise würde er seinen Zweck erfüllen, wenn er ambitionierte Nachfolgeprojekte (evt. unter größerer philosophischer Beteiligung) inspirierte.