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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1315–1317

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brague, Rémi:

Titel/Untertitel:

Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken.

Verlag:

Aus d. Französischen v. G. Ghirardelli. München: Beck 2006. 381 S. 8°. Lw. Euro 29,90. ISBN 3-406-53521-6.

Rezensent:

Sebastian Lalla

Dass die Welt als Ganze einen harmonischen Ort darstellt, an dem sich eine über die Möglichkeiten subjektiven Empfindens hinausgehende sichtbare Schönheit zur Ansicht bringt, dürfte heute kaum noch ernsthaft zu behaupten sein ­ zumindest dann nicht, wenn man diese These aus dem Kontext der allgemeinen Erfahrung belegen müsste. B. zeigt in seinem Buch, dass genau diese Ansicht einer in sich modellhaft schönen und geordneten Welt über viele Jahrhunderte hin nicht nur zum gemeinsamen Verständnis gehört hat, sondern sogar die unhinterfragte Grundlage kultureller Hermeneutik über religiöse Grenzen hinweg bildete.

Die zentrale Auffassung, mit dem den Menschen umgebenden Naturraum nicht nur eine unübersehbare Vielfalt, sondern eine erkennbare Ordnung vorzufinden, die das menschliche Leben vorweggreifend umfasst, ist untrennbar mit dem Versuch verbunden, eine Geschichte des Ganzen zu erzählen. Deshalb sind auch die kosmographischen und kosmogonischen Muster, die den Anfang antiker Spekulation über die Wirklichkeit des Erfahrbaren insgesamt ausmachten, in der Zusammensicht einer Erkenntnis, die über die semantische Voraussetzung eines »Ganzen« verfügt, in die kosmologische Dimension eingeordnet. Für die griechische Philosophie, die B. als Ausgangspunkt seiner (auf die europäische Tradition beschränkten) Darstellung wählt, wurde in einer naturwissenschaftlichen Erfahrung und philosophischen Reflexion gleichermaßen umfassenden Entwicklung der Begriff des Kosmos erarbeitet. Diesem eignet nicht nur der Aspekt, ein integrierendes Modell des gesamten Seienden zu sein, sondern auch, dieses nach bestimmten Kriterien zu ordnen. Neben dem Gesichtspunkt des Schönen oder Wahren (die für die mittelalterliche Rezeption eine große Rolle spielten) ist es vor allem der ethische Bereich, den B. betont. Teil eines Kosmos zu sein, stiftet nicht nur Erkenntnis aus der Erfahrung des Regelmäßigen und praktischen Nutzen in der berechnenden Beherrschung des so Verstandenen; es bietet zugleich einen moralischen Auftrag, eine Beschreibung dessen, was sein sollte auf Grund der Einsicht in das, was als Ganzes nicht anders als vollendet, auch im moralischen Sinne, sein kann.

Sehr bald ist diese moralische Komponente des Kosmos-Denkens auch theologisch untermauert worden, sie erwächst nach B. zu einem konstitutiven Kennzeichen der beiden Traditionslinien und findet Eingang in alle drei monotheistischen Religionen des Abendlandes. Neben der platonischen Interpretation des Kosmos im »Timaios« ist die zweite Traditionslinie. die un ter dogmatischer Selbstversicherung erzielte Auslegung einer spezifischen Schöpfungstheologie, in der die Existenz eines weltübersteigenden Ordnungsgebers die Beschaffenheit des ganzen Sei enden nor mativ wie physikalisch durchwaltet. Aus diesen bei den Grundmustern kosmologischer Tradition ergeben sich auch die richtungsweisenden Verhaltensdeutungen, mit denen die Menschen sich ihre Existenz im Kosmos gestalten. Denn die »Weisheit« der Welt besteht gerade darin, das Schema, nach dem das Ganze seine Ordnung erhält und aufrecht erhält, nicht ins Dunkel einer unsagbaren Mystifikation abzuscheiden, sondern in der Fülle des Seienden zur Geltung zu bringen. Deshalb ist die Nachahmung des kosmischen Geschehens ­ abgeleitet aus der platonischen Tradition einer Mimesis als Angleichung an die vorgefundene Vollkommenheit ­ einerseits und die Vervollkommnung des an sich Guten, aber noch nicht zur Voll endung des Möglichen gelangten Seienden andererseits, eine komplementäre Herangehensweise an die Komplexität der Wirk lich keit.

B. zeigt nachvollziehbar, wie die scheinbar konkurrierenden Modelle sich in der Figur der unmittelbaren Weisheit der Welt ­ also der Annahme, die eigene Unzulänglichkeit in der Perfektion einer intelligiblen Gesamtheit des Geschaffenen ­ verbinden lassen. Denn während die antike (vorchristliche) Sicht den Kosmos als Manifestation des Unveränderlichen betrachten musste, hatten die christlichen, jüdischen und islamischen Phi losophen und Theologen natürlich die Vorstellung eines auch den Kosmos insgesamt überragenden und ihn damit als defizient entlarvenden Gottes im Blick. Erst in der Fortführung einer Interpretation von Ordnung, die sich selbst genügt, zu einem Modell von Ordnung, in der das Handeln des Menschen als perfektionierende Möglichkeit gesehen wird, weil beides, der Rahmen wie die Ausfüllung desselben, auf die gleiche unmittelbare Wirklichkeit des weisen Schöpfers hingeordnet sind, lassen sich die Spannungen austarieren.

Dass eine solche Harmonie, die griechische Philosophie nicht als Problem, sondern als Herausforderung zu betrachten, auch im Rätselhaften die Weisheit des Vollkommenen sichtbar werden zu lassen, nicht selbstverständlich war, zeigt B. eindrucksvoll an den Ausführungen zur Gnosis. Mit der Annahme eines dualistischen Prinzips, bei dem Gut und Böse gleichermaßen das Seiende der Welt durchformen, deutet sich eine alternative Konzeption an: Nicht die Erfahrung des Kosmos ist eine moralisch strukturierte, sondern bereits die Existenz des Kosmos. Wenn aber das Seiende unmittelbar an das Böse gebunden ist, kann nicht dessen partielle Verbesserung, sondern nur die vollständige Überwindung durch die Absage an das Seiende insgesamt erzielt werden. Die Vehemenz, mit der sich die theologischen Orthodoxien gegen gnostische Muster der Welterfahrung und -deutung richteten, muss wesentlich aus dieser Rolle erklärt werden, die der Kosmos als Ordnungsmodell und als Ordnungsprinzip innehatte. B. hätte insbesondere die skizzenhaften Andeutungen zur Restitution der Gnosis im Kontext des modernen Technikverständnisses breiter auslegen dürfen: Hier wäre ein Mehr an Details sehr wünschenswert gewesen.

Wie gewinnbringend B.s Kenntnis ebenjener Details ist, wird immer dann deutlich, wenn er auch die jüdischen, vor allem aber die islamischen Denker zu Wort kommen lässt. Eine so ausgewogene Darstellung der gemeinsamen Entwicklung (»ab rahamitische Tradition«) einer kosmologisch gestalteten Überschreibung der Physik durch Philosophie und Theologie bei gleichzeitiger Nuancierung der unterschiedlichen Schwerpunkte (etwa in der Frage, ob die Erkenntnis der Welt an sich eine erstrebenswerte Haltung oder eine in sündhafter Neugierde endende Torheit sei) findet sich selten.

B. vermag die Lebendigkeit seines Panoramas auch im zweiten Teil beizubehalten, in dem die Differenz zum Kosmos-Denken in der modernen Welt skizziert wird. Allerdings ist die Vielfalt, die sich mit dem Wegbrechen der geschlossenen Vorstellung eines nicht nur geordneten, sondern auch guten Ganzen auftut, kaum anders als kursorisch zu bewältigen. Deshalb ist die Darstellung des moralisch indifferenten Naturbildes auch nur als Andeutung zu verstehen, nicht als Erklärung, wie es zu der Verschiebung kam. B. verzichtet hier zu Recht auf große Theorien und begnügt sich mit Verweisen auf die technische Entwicklung angesichts von Erfahrungszusammenhängen, die mit der Vorstellung einer Einheit der sublunaren und einer Un veränderlichkeit der supralunaren Welt nicht mehr klarkommen können.

Dass nach dem Ende eines Entsprechungsdenkens von Mensch und Kosmos (im vielzitierten Modell des Mikro-Makro-Kosmos ein beherrschendes Element nicht nur des Renaissancedenkens) auch die menschliche Moral auf sich gestellt wurde, ist nur ein Moment, das aus der Aufgabe einer kosmologisch verbürgten Identität von Sein und Sollen resultiert. Wie sehr die Verlagerung des philosophischen Denkens von einer Praxisbewältigung zu einer metaphysischen Illustration der Schönheit einer an sich wahren Unabhängigkeit des Seins von aller zweckhaften Ordnung auch aus der Zerbrechlichkeit eines Kosmos-Welt-Denkens motiviert ist, hat B. nur sehr schemenhaft angezeigt. An dieser Schnittstelle von theoretischer und praktischer Philosophie bleibt eine Erwartung an die Erzählung, die zu füllen anderweitig Literatur vorhanden ist. Insofern ist B.s Darstellung nicht lückenhaft, sie ist themenfokussiert und gewinnt gerade durch die Beschränkung an Prägnanz, weil sie sich nicht im Unübersehbaren des ohnehin gewaltigen Themas verliert.

Es entsteht somit ein sehr anregendes, mit vielen Verweisen gut lesbares Buch, dem es sicher nicht geschadet hätte, wenn der Verlag die Transkriptionen der griechischen (und hebräischen und arabischen) Zitate auch in Originalschrift wiedergegeben hätte. Wahrscheinlich ist auch dies ein ­ peripheres aber sprechendes ­ Indiz für den Verlust der »Weisheit« in der Welt.