Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1312–1314

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Münz, Christoph, u. Rudolf W. Sirsch [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

»Wenn nicht ich, wer? Wenn nicht jetzt, wann?« Zur gesellschaftspolitischen Bildung des Deutschen Koordinierungsrates der Ge sellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR).

Verlag:

Münster: LIT 2004. 304 S. gr.8° = Forum Juden und Christen. Europäische Beiträge zum christlich-jüdischen Verhältnis, 5. Kart. Euro 15,90. ISBN 3-8258-8165-2.

Rezensent:

Peter von der Osten-Sacken

55 Jahre nach Gründung des DKR, der Dachorganisation der inzwischen 84 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusam menarbeit in Deutschland, haben die beiden Herausgeber einen Band vorgelegt, dessen Beiträge sensibel, kritisch und weiterführend die Arbeit des DKR in den letzten Jahrzehnten beschreiben und würdigen. Besonderes Gewicht liegt einerseits auf der Darstellung der Anfänge, andererseits auf dem Rück blick auf die Zeit seit etwa 1990 und der Andeutung von Konsequenzen aus den Erfahrungen des DKR in dieser Zeit. Diese Ausrichtung entspricht sowohl dem Gewicht der Entstehungszusammenhänge für die Tätigkeit des DKR als auch der Zielsetzung des Bandes, nicht allein Art und Ertrag der bisherigen Arbeit zu skizzieren, sondern mit deren Bilanzierung Orientierungspunkte für den weiteren Weg zu benennen. Zu Wort kommen langjährige leitende Mitglieder des Vorstandes und späteren Präsidiums des DKR (Martin Stöhr, Nathan Peter Levinson, Willehad Paul Eckert, je 1965­1984, Hans Hermann Henrix und Berndt Schaller), Generalsekretäre (Ansgar Koschel, Rudolph W. Sirsch) und Autoren, die die Arbeit oder einzelne ihrer Aspekte aus einer spezifischen Perspektive zur Darstellung bringen (Gabriele Hammerer, Günther B. Ginzel, Horst Dahlhaus).

Stöhr setzt in seiner grundlegenden Studie über »Notwendigkeiten und Schwierigkeiten einer Christlich-Jüdischen Zusam menarbeit« (30­106) der These, der DKR sei vor allem auf einen Oktroy der amerikanischen Besatzungsmacht zurück zu führen (K. Foschepoth 1993), den überzeugenden Nachweis entgegen, dass die Anregung zur Gründung von Gesellschaften und der Einrichtung einer jährlichen »Woche der Brüderlichkeit« überhaupt nur deshalb aufgenommen zu werden vermochte, weil es erste Anfänge eines neuen christlich-jüdischen Verhältnisses und entsprechende Promotoren bereits in Deutsch land gab, zum Teil zurückreichend bis in die NS-Zeit (45­67, mit besonderem Gewicht auf dem Namen Adolf Freudenbergs). In Aufnahme der Perspektive des Untertitels des Bandes zeigt er anhand der Tätigkeit des DKR und mit ihm verbundener Institutionen, in welchem Maße die theologische Arbeit an einer qualitativen Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses von Anfang an jeweils gesellschaftspolitische Implikationen und Konsequenzen gehabt hat (vgl. die Bilanzierungen, 43.78­80.94 f.105 f., und ergänzend für den Kampf gegen den Antisemitismus in der Anfangszeit Ginzel, 203­212, für die Zusammenarbeit mit dem Katholikentag Henrix, 173­188, und mit der Bundeszentralen für politische Bildung Dahlhaus, 213­225). Zwar hat je und dann die Gefahr bestanden, eine der beiden Seiten ­ die theologische oder die gesellschaftspolitische ­ zurücktreten zu lassen, doch hat der DKR durchaus selber gegenzusteuern vermocht. Ein nachgedruckter Beitrag von Levinson über die Anfänge des DKR ist in diesem Sinne ein mitreißendes Plädoyer dafür, der Frage nach den theologischen Grundlagen des christlich-jüdischen Verhältnisses treu zu bleiben (151­160; vgl. auch seinen Beitrag über gemeinsame Gottesdienste, 198­202), während Sirsch in einem vergleichbaren Beitrag materialreich die ­ im Allgemeinen eher unbekannte ­ Wirksamkeit des teils hochkarätig besetzten Erzieherausschusses des DKR in den Jahren 1949­1975 nachzeichnet (115­150) und zeigt, wie an dessen Arbeit in den letzten Jahren vor allem mit der nachhaltigen Aktion »Schule Ohne Rassismus« gezielt angeknüpft worden ist (vgl. 242 f.246­250).

Zwar gibt es auf der Agenda des DKR neue Fragen angesichts neuer Situationen, so z. B. das Problem, inwieweit er sich einer Erweiterung oder Ergänzung um den Dialog mit Muslimen zu öffnen habe, auch öffnen könne, ohne sein Spezifikum und damit die ihm aufgetragene Aufgabe zu gefährden, das christlich-jüdische Verhältnis in seiner Besonderheit zu gestalten und zu fördern (Schaller, 252­261, besonders 258 f.). Doch gegen über der in jüngerer Zeit verstärkt begegnenden These, das christlich-jüdische Verhältnis habe mittlerweile eine völlig neue Agenda, bedeutet der Band mit seiner nüchternen Beschreibung der Verhältnisse ein heilsames Gegengewicht: Das, was landauf, landab erarbeitet und deklariert wurde, ist, wie besonders krass die latente Judenfeindschaft in einem Viertel der deutschen Bevölkerung signalisiert, noch längst nicht dort angekommen, wo es Juden, Christen und den Übrigen zugute zur Wirkung gelangen soll (251.256 f. u. ö.). In diesem Sinne leistet der Band eine aus kontinuierlicher Arbeit und kontinuierlichen Erfahrungen geschöpfte, verlässliche Orientierung darüber, was aus welchen Gründen weiter zu tun ist.