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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1310–1312

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Maser, Peter, u. Christian-Erdmann Schott [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

»Kirchengeschichte in Lebensbildern«. Lebenszeugnisse aus den evangelischen Kirchen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Münster: Verein für ostdeutsche Kirchengeschichte in Verbindung mit dem Ostkirchen-Institut Münster 2005. V, 279 S. m. Abb. 8° = Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte, 7. Kart. ISBN 3-9808538-2-9.

Rezensent:

Ernst Hofhansl

Dieser Band ist als ein Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur sehr zu begrüßen. Gilt es doch im akribisch historisch aufgearbeiteten Rahmen, Personen und ihr Schicksal, ihr persönliches Lebenszeugnis mit der jeweiligen geschichtlichen Situation zu verbinden. Dabei geht es bei der Kirchengeschichte um ein »Mehr«: Leben und Geschichte als aus Gottes Hand angenommen und gedeutet zu verstehen und das eigene Handeln vor Gott und eingebunden in die Wirklichkeit der (be drängten, verfolgten) Kirche zu verantworten. Im weiteren Bemühen um eine reflektierte Memorialkultur ist das Gespräch mit den Literaturwissenschaften (Spannung zwischen objektivierbaren Biographien und persönlichen Darstellungen), der Praktischen Theologie (Liturgik: Evangelischer Namens- und Gedenkkalender; F. Schulz) und der Religionspädagogik (Le bensbilder, J. Erb, Wolke der Zeugen) zu suchen. Darüber hinaus wäre zu erwägen, ob nicht auch Forschungsergebnisse der englischen und französischen Postkolonialzeit fruchtbar für eine Neubewertung der jeweiligen europäischen Nachkriegsordnungen gemacht werden könnten: Aufdecken von Zusammenhängen von Machtausübung (Umsiedlungen, Vertreibungen) und Grenzziehung einerseits und den Spannungen zwischen ausgehandelten Verträgen und offiziellen nationalen Gesetzen und deren lokaler Umsetzung in den Alltag mit seinen Schwierigkeiten und Schikanen andererseits. Die Beiträge zeigen aber auch deutlich die Chancen und Grenzen des reformatorischen Prinzips des Dienstes der Kirche in der Muttersprache ihrer Glieder als Aufgabe und Not in der (doppelten) Diaspora, nicht nur für die deutschen, sondern auch für alle anderen sprachlichen Minderheiten auf.

Den Band eröffnet Peter Maser, Menschen in Gottes Hand. Die Rolle der Biographie im Rahmen der Kirchengeschichte (1­21), und fasst auf wenigen Seiten illustrativ den Forschungsstand zusammen. Die reichlich zitierte Literatur eröffnet den interessierten Lesern den Einstieg in das Umfeld biographisch orientierter Kirchengeschichte seit ihren Anfängen.

Katharina Wegner, Hildegard Schaeder (1902­1984) (22­54), wendet sich in ihrem Beitrag einer Frau zu, die als profunde Kennerin der (russischen) Orthodoxie im Bereich der EKD und auch zusammen mit staatlichen Funktionären gearbeitet hat. Postum wurde sie unter die »Gerechten unter den Völkern« (Yad Vaschem) aufgenommen. Nach der Darstellung von Leben und beruflichem Wirken schließt Wegner mit einem Katalog künftiger Forschungsaufgaben. Heinrich Witram, Herbert Gir gensohn (1887­1963). Seelsorger und Vordenker in Zeiten des Umbruches und des Heimatverlustes (55­81), beschreibt das Geschick der Deutschen im ehemaligen Livland/Lettland bis zur Umsiedlung und späteren Vertreibung. Das für die an vertrauten Menschen fürsorgliche Handeln Girgensohns in praktischer Seelsorge, diakonischen Maßnahmen, literarischen und politischen Engagements wird, mit Quellentexten unterstützt, einfühlsam nachgezeichnet. Nicht minder dramatisch war die Situation in Estland, wofür der Beitrag von Rihto Altnurme, Erzbischof Jan Kiivit (1906­1971) (82­92), steht. Auch hier sind die Verwerfungen des 20. Jh.s augenfällig und die Zeitläufe schwierig darzustellen, weil die Quellen (noch) beschränkt zugänglich sind und in ihrer Interpretation sowohl Einfühlungsvermögen in die Zeitumstände als auch ein kritisches Bewusstsein im Blick auf ideologische Verengungen notwendig sind.

Ins österreichische Schlesien und nach Polen führt uns Herbert Patzelt, Oswald Brüll (1893­1942) ­ Thomas Mann (1875­1955). Eine Freundschaft (93­101), und zeigt uns den aus jüdischem Bürgertum stammenden Juristen, Journalisten und Schriftsteller, der evangelisch heiratet und sich 1939 in Lemberg taufen lässt. Er stirbt in einem sowjetischen Lager. Die Freundschaft seitens Th. Mann bleibt distanziert literarisch, trotz der persönlichen Begegnung in Wien. Miroslav Danys, Vladislav Sartorius (1915­1989) (102­119), ein pietistisch geprägter Pfarrer, der sich besonders der Industriearbeiter missionarisch annahm und dadurch auch in Spannungen zu seiner eigenen Kirchenleitung (evang. A. B.) und dem kommunistischen System kam. Jan Capek widmet sich Bozena Komárková (1903­1997) (120­124), die nach einem Studium der Philosophie als Gymnasial- und Mittelschullehrerin arbeitete. In der Brüder-Kirche engagiert, hatte sie allerlei Bedrückungen, Gefängnis in der Protektorats- und Benachteiligungen in der Kommunistenzeit zu erdulden. In vielfältiger Weise hat sie in Gemeinden und Kirche ihre Gaben eingebracht und in wissenschaftlichen Veröffentlichungen ihre Anliegen, besonders die Menschenrechte, thematisiert. Im persönlich gestalteten Beitrag von Anna Adamoviova-Olexová, Th. B. Darina Banciková, die erste slowakische evangelische Pfarrerin (124­137), wird die Theologin Banciková (1922­1999), die zuerst als Religionslehrerin, Verlagslektorin und Bibliothekarin arbeitete, bis sie 1951 ordiniert und 1958 als erste selbständige Pfarrerin installiert werden konnte, vorgestellt. Dabei ist im Rahmen der politischen Gegebenheiten (mit Gefängnis und Berufsverbot) auch die innerkirchliche Situation der Evangelischen Kirche A. B. dieser Jahre nachgezeichnet. Zoltán Tökes schreibt zu Bischof Imre Révész (1889­1967) unter besonderer Berücksichtigung seines ökumenischen Wirkens und seinem Rücktritt vom Bischofsamt (138­146). Révész war Sohn einer reformierten Pfarrer- und Professorenfamilie, der durch die lutherische Volksschule und das römisch-katholische Gymnasium ökumenisch geprägt wurde. Der re nommierte Calvin-Forscher wurde 1938 Bischof der Diözese jenseits der Theiß und hatte 1948 den Kampf mit den kommunistischen Machthabern um die Schule zu führen. Er resignierte von allen Ämtern. Da die von ihm verfügte Archivsperre noch gilt, wird die spätere Aufarbeitung seines Nachlasses noch eine Aufgabe sein. Johann Böhm steuert einen Beitrag zu D. Dr. Viktor Glondys (1882­1949). Sein Wirken als Bischof der evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien von 1932 bis 1941 (147­175) bei. Von der Familie her römisch-katholisch, in Biala aufgewachsen, studiert er in Graz Philosophie, konvertiert und wird in Wien Theo loge. 1912 wird er Stadtpfarrer in Czernowitz und 1922 in Kronstadt, wo er sich besonders um die historische Aufgabe der Be treuung der Sachsen in Siebenbürgen bemüht und selbst eine lutherisch-ökumenische Position vertritt. Das wird auch in den mühevollen Konflikten innerhalb der Kirche in der Konfrontation mit den völkischen Ansprüchen nationalsozialistisch orientierter Personen und Gruppierungen deutlich. 1930 wird er Bi schofs vikar und 1932 Bischof seiner Kirche. Als die NSDAP die Volksgruppenführung übernimmt, tritt er 1941 vom Bischofsamt zurück, in das er nach 1944 nicht wieder zurück kehren kann. In Siebenbürgen hat das Kuratorenamt eine besondere Bedeutung. Auf der Ebene der Landeskirche und der Volksgruppenpolitik skizziert nun Ulrich A. Wien, »Ich rufe alle auf, sich in die Heimat einzukrallen und entschlossen zu sein, hier zu bleiben.« Dr. Hans Otto Roth als Politiker und Landeskirchenkurator der Evangelischen Landeskirche A. B. in Ru mänien (176­188) ein Lebensbild. Roth (1890­1953) studierte Rechtswissenschaften in Budapest, Wien, Berlin und Zürich, wurde konservativer Politiker und rumänischer Parlamentsabgeordneter und war seit 1926 auch in der Kirchenleitung verantwortlich. Als Landeskirchenkurator war er eng mit dem Bischof zunächst freundschaftlich, dann (kirchen-)politisch anders mo tiviert verbunden. An den Beiträgen zu Glondys und Roth wird deutlich, wie schwer nachträglich eine sachlich und persönlich gerechte Beurteilung der in einer historischen Situation notwendigen Bewertung einer Lage samt Abwägung von zu befürchtenden Nachteilen und erhofften Vorteilen ist, die mit den getroffenen Entscheidungen und ihren Wirkungen nicht immer übereinstimmen. Ähnliches ist auch in dem Beitrag von Karl Schwarz, Von Cilli nach Wien. Gerhard Mays Weg vom volksdeutschen Vordenker zum Bischof der Evangelischen Kirche in Österreich (189­214), in einfühlsamer Weise dargestellt und mit der Evangelischen Kirche in Österreich verknüpft. May (1898­1980) war in der österreichischen, reformierten Tradition aufgewachsen, folgte seinem Vater als Pfarrer von Cilli und war von 1944 bis 1968 Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich. An seinem Leben und Wirken sind Positionen und Relationen der Evangelischen in Österreich zum Staat, zur Kirche, zum »Reich« und zu den Nachbarkirchen exemplarisch nachzuvollziehen. Von den Erfahrungen am altösterreichischen Rand des Deutschtums in doppelter Diaspora geprägt, hat er als Theologe und Bischof ökumenische Weite repräsentiert, in politischer Umsicht die Sozialgestalt von Kirche wahrgenommen und sein Handeln reifer Verantwortung gemäß gestaltet. Gerd Stricker schildert Christen in der Sowjetunion als Glaubenszeugen und Märtyrer (215­235). Das Wirken des Ehepaares Bachmann ist vielleicht aus persönlichen Begegnungen noch be kannt. Hin ein gestellt aber in die Geschichte der Sowjetunion und verbunden mit den vielen namenlosen Vertriebenen, Ge quälten und Getöteten wird die Lektüre aufregend, spannend und instruktiv im Blick auf das, was die lutherischen Kirchenglieder und Pfarrer, die pietistisch geprägten »Brüder« im Glauben lebten und litten, so dass die Bezeichnung »Märtyrer« zu Recht erscheint.

Karl Schwarz, Das Institut für Kirchengeschichte des Do nau- und Karpatenraumes an der Comenius-Universität Preßburg/Bratislava (236­245), stellt eine ursprünglich in Wien be heimatete Forschungsstelle in ihrem Werdenvor ­ mit ge genwär tigen Aufgaben und Forschungsvorhaben. Neun Buchbespre- chun gen, ein Mitarbeiterverzeichnis samt Anschriften, Informationen zum Verein für ostdeutsche Kirchengeschichte und ein leider unvollständiges Register beschließen den Band (246­279). Einige Fehler sind zu entschuldigen.