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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

239–242

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Müller, Mogens

Titel/Untertitel:

The First Bible of the Church. A Plea for the Septuagint.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1996. 163 S. gr.8° = Journal for the Study of the Old Testament. Suppl. Series 206. Copenhagen International Seminar 1. £ 25,­. ISBN 1-85075-571-X.

Rezensent:

Hans Hübner

Wenn bestimmte Kenntnisse erst einmal die Stufe der Evidenz erreicht haben, dann setzen sie sich auch durch ­ oft gegen den erbitterten, zuweilen sogar fanatischen Widerstand jener, die das Gegenteil behaupten, weil Befangensein und Gefangensein in bestimmten, oft ideologisch bedingten Vorurteilen von erheblich größerer Dominanz sind als die Einsicht in die Sache. Das Buch von Mogens Müller steht ganz im Dienste einer solchen Evidenz. Der Autor hat in aller Klarheit verstanden, um was es geht. Und er hat, was er sagt, so klar und einsichtig gesagt, daß der Leser ­ vorausgesetzt, er liest ohne gravierende Vorurteile; vorausgesetzt, er beherzigt die Mahnung Kants "Sapere aude!"­ aufgrund der zutage tretenden Evidenz zum notwendigen Erkenntnisgewinn gelangen müßte.

Ehe es jedoch zu inhaltlichen Aussagen kommt, noch ein notwendiger Hinweis: Das Buch ist eine Übersetzung aus dem Dänischen. Dessen Titel: Kirkens første Bibel. Der Untertitel unterscheidet sich aber gegenüber dem der englischen Übersetzung: Hebraica sive Graeca veritas? Erschienen ist das dänische Original (1994) in: Forlaget ANIS, Frederiksberg C.

Die Intention des Autors ist im Untertitel des dänischen Originals als Alternativfrage formuliert ­ hebräische oder griechische Wahrheit? ­, in der englischen Übersetzung programmatisch ausgesagt: Ein Plädoyer für die Septuaginta! Sie ist die erste Bibel der Kirche! M. will also die theologische und kirchliche Bedeutung der LXX herausstellen, besser formuliert: Er will diese Bedeutung aufgrund der damaligen Gegebenheiten aufweisen. Und in der Tat: Sie stehen nach der Lektüre des Buches konkret vor dem geistigen Auge. Doch zunächst die Übersicht über die Gliederung dieser Monographie:

Chapter 1: Introduction (1. The Jewish Bible ­ The Christian Bible. 2. The Impact of the Old Testament on the New Testament. 3. Is the Bible of the Church Synonymous with Biblia Hebraica and/or the Septuagint?). Chapter 2: The Jewish Bible at the Time of the New Testament (1. The Formation of the Canon of the Jewish Bible. 2. The Hebrew Bible Text. 3. The Greek Version of the Jewish Bible. 4. The Textual History of the Septuagint). Chapter 3: Jewish Defence of the Greek Translation of the Law (1. Aristeas. 2. Aristobulus. 3. Philo. 4. Josephus). Chapter 4: The Reception of the Septuagint Legend into the Church up to and including Augustine (1. Graeca Veritas. 2. Hebraica Veritas. 3. The Sequel). Chapter 5: Hebraica sive Graeca Veritas? (1. The Septuagint as a Phenomenon. 2. The Septuagint: A Witness to the Handing on of Traditions. 3. Translatio et/sive Interpretatio. 4. The Septuagint: An Alternative to Biblia Hebraica?). Chapter 6: Vetus Testamentum in Novo (1. The Biblical Theological Impact of the Old Testament. 2. The Use of the Bible in the New Testament. 3. The ’Christianization’ of the Old Testament). Chapter 7: Conclusion. Das Buch endet mit einer Bibliographie und einem Sach- und einem Autorenregister.

Das 1. Kap. entwickelt den status quaestionis. Die daraus erwachsende und erwachsene Frage ist scharf gestellt: Ist die Bibel der Kirche die Biblia Hebraica und/oder die Septuaginta? Geht es um ein "Entweder ­ Oder!" oder um ein "Sowohl ­ Als auch"? Das 2. Kap. informiert zutreffend über die jüdische Bibel in neutestamentlicher Zeit, Kap. 3 bringt die wichtigsten jüdischen Autoren und dabei entscheidende Passagen aus ihren Schriften.

Mit Kap. 4 beginnt die eigentliche Fragestellung. Es ist zwar auch weithin historisches Referat, aber doch so, daß sich immer deutlicher die entscheidende Problematik herausschält und gerade dadurch eine theologische Antwort vorbereitet wird. Es gelingt M. gut, das Ineinander von theologischen und nichttheologischen Argumenten zugunsten oder zuungunsten der LXX deutlich werden zu lassen. Für ihre Geltung als kanonische, d.h. inspirierte Heilige Schrift nenne ich hier nur Clemens von Alexandrien, Strom. I.22,149, der heilsgeschichtlich argumentiert: Hat Gott die Propheten gegeben, so war es für ihn nichts Fremdes (ou xenon), eine Übersetzung zu bewirken, wenn in seinem Plan eine solche erforderlich ist.

Wir werden diese vom Begriff der Inspiration ausgehende Beweisführung insofern heute aufgreifen können, als wir im Blick auf die damalige geschichtliche Situation ­ der größere Teil der Juden lebte ja in der griechisch sprechenden Diaspora ­ die Anfertigung der griechischen Übersetzung der Biblia Hebraica als geschichtliche Notwendigkeit begreifen. Insofern hat, um zunächst noch einmal auf jüdische Autoren zurückzublicken, Philon schon etwas durchaus Zutreffendes gesehen, als er sowohl die hebräische als auch die griechische Version des mosaischen Gesetzes als vollständig hinreichenden Ausdruck der diesem Gesetz zugrunde liegenden geistlichen Realität sah (64). In der Tat: Das, was das AT theologisch sagen wollte, ist nicht an die hebräische Sprache gebunden.

Daß aus diesem Gedanken Philons oder auch ähnlichen Überlegungen des Aristeas oder des Josephus auch christliche Argumentation erwuchs, versteht sich geradezu von selbst. Wer­ so wäre hinzuzufügen ­ die Notwendigkeit einer als Autorität gesehenen jüdischen Bibel in griechischer Sprache leugnet, deklassiert die griechisch sprechenden Juden der jüdischen Diaspora eben wegen ihrer Sprache.

Es ist nicht nur aufschlußreich, was frühe christliche Theologen zur Kanonizität der LXX gesagt haben, sondern auch, wie M. das Ganze darstellt. Es gelingt ihm nämlich vorzüglich, die Kuriosität der Argumentationssituation herauszustellen. Schauen wir z. B. auf den Verfechter der veritas Hebraica, nämlich Hieronymus! Für ihn war diese veritas gleichbedeutend mit der Annahme des hebräischen Kanons, also mit dem Ausschluß der Apokryphen. Seine eigentliche Intention war aber großenteils alles andere als theologisch. Die Textgestalt der LXX sei lückenhaft, sie enthalte manche Passagen der Biblia Hebraica nicht, die für die Kirche von vitalem Interesse seien. Hinzu komme, daß in der Auseinandersetzung mit den Juden die Textbasis besser sei. Das freilich ist ein reichlich pragmatisches Argument! Und so schreibt M. (88):

"It should be remarked that in his giving preference to the Hebraica Veritas, Jerome did not argue with any theory of special inspiration, but solely philologically, with the result that he canonized one text tradition".

Für den dänischen Exegeten antizipierte Hieronymus den biblischen Humanismus. Freilich, insofern die Einheitlichkeit der Biblia Hebraica unseren Hieronymus überzeugt hatte, war er selbst im Grunde in diesem Punkte der Betrogene (88). M. spricht in diesem Zusammenhang von der "Ironie der Geschichte" (88, Anm. 43): Sie zeige sich darin, daß ausgerechnet die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus, die Vulgata, die gleiche autoritative Bedeutung erhalten hat, die die Kirche zuvor jahrhundertelang der LXX mit der Legende von ihrer Entstehung zugeschrieben hatte (Konzil von Trient, Entscheidung vom 8. April 1546). M. fügt hinzu: "Die Ironie wurde dadurch noch größer, daß in der Zwischenzeit die Apokryphen in den lateinischen Kanon eingefügt worden waren". Und noch delikater wird die Sache dadurch, daß Hieronymus mit seiner doch philologischen Argumentation dafür plädierte, daß nicht der Wortlaut, sondern die Bedeutung des biblischen Textes zählt (88)!

Daß Augustinus die gegenüber Hieronymus entgegengesetzte Position vertrat, ist bekannt. Daß er in einer ganz anderen Weise, ja viel tieferen Weise als Hieronymus theologisch dachte, bedarf keines besonderen Nachweises. Freilich, er bestreitet dem hebräischen Text nicht seine kanonische Geltung; er anerkennt die veritas Hebraica, doch eben nur als veritas Hebraeis sive Judaeis (93). Mit dieser Ansicht ist aber sehr viel gewonnen. Vor allem ist dadurch die Biblia Hebraica als genuine Bibel Israels von christlicher Seite zugestanden!

Die Folge (94): Sie ist bekannt. Die Entscheidung der Reformatoren für die veritas Hebraica war tragisch. Anders kann und darf man es nicht sagen. M. spricht zutreffend von einem Aschenbrödel-Dasein der LXX bei den evangelischen Christen (96: "the cinderella-like existence among the Protestants"; dänischer Text, 83: "en Askepot-tilværelse i de protestantiske kirker"). Und diese Erniedrigung der LXX bedeutet unbestreitbar einen gewissen theologischen Substanzverlust. Nicht nur am Rande gesagt: Es ist jedoch erfreulich, daß inzwischen eine ganze Reihe evangelischer Theologen dies klar erkannt hat und für die Kanonizität derjenigen griechischen Schriften votiert, die nur in der LXX, nicht aber in der Biblia Hebraica enthalten sind.

M. hat also sehr gut herausgearbeitet (mehr, als hier angedeutet werden konnte), welche Ungereimtheiten mit der Übernahme einer exklusiven veritas hebraica im evangelischen Raum die Folge waren und sind. Vor allem aber hat sich an seiner Darstellung gezeigt, daß wir mit dem Begriffspaar veritas Hebraica und veritas Graeca vorsichtig sein sollten. Wenn in diesem Zusammenhang von veritas, von "Wahrheit", die Rede ist, so ist dieser Begriff nur in recht vordergründiger Weise verwendet. Denn die griechische oder hebräische Wahrheit ist nicht die theologisch gewichtige aletheia des Paulus oder Johannes! Die veritas Hebraica und die veritas Graeca vermögen nicht die Freiheit zu schenken, wie es die Wahrheit des johanneischen Jesus vermag! Die biblische aletheia ist als Offenbarungsbegriff ein Existenzbegriff. Davon sind aber die beiden genannten veritates meilenweit entfernt! Es sind jedoch griechische theologische Begriffe der LXX, die im NT zu tiefgründigen Offenbarungs- und Existenzbegriffen werden.

Im 5. Kap. "Hebraica sive Graeca Veritas?" ist der vielleicht wichtigste Abschnitt der dritte, überschrieben mit den lateinischen Worten "Translatio et/sive Interpretatio". Denn hier geht es nun um eine entscheidende hermeneutische Frage. M. verweist u. a. auf einen Brief des Hieronymus (an Pammachius, ep. 57,5), wo dieser Cicero zustimmt. Der römische Redner sagt über seine Tätigkeit als Übersetzer: "nec converti ut interpres, sed ut orator". Sein Prinzip: "non verbum pro verbo". Cicero will die Kraft der Sprache, die Kraft der Worte durch dieses Prinzip wirken lassen: genus omnium verborum vimque. Ebenso beruft sich Hieronymus auf Horaz, den er zitiert: "nec uerbum pro uerbo curabis reddere fidus interpres". Unter Berufung auf S. P. Brock folgert M. aus dem Ganzen, S. 109:

"The difference is that, while the interpretive expositor aimes to bring the source text to his reader, the literalist translator seeks to bring the reader to the source text".

Der letzte Abschnitt des 5. Kap. wird bezeichnenderweise überschrieben: "Die Septuaginta ­ eine Alternative zur Biblia Hebraica?" M. behandelt darin zunächst den textgeschichtlichen und textkritischen Fragenkomplex, nämlich ob die griechische Übersetzung gegenüber dem hebräischen "Ur-Text" sekundär sei. Er verneint diese Frage mit dem berechtigten Hinweis darauf, daß sich damals erst ein normativer Text der Biblia Hebraica nach und nach herauschälte; der griechische Text beruhe zuweilen auf einem anderen hebräischen Text als dem masoretischen.

Wichtiger ist aber M.s Hinweis auf das Faktum, daß die LXX für die griechisch sprechenden Juden der Diaspora ­ noch einmal: es war die Majorität der Juden! ­ die Biblia Hebraica ersetzte (115: "replaced"). Die LXX wurde so ihre Bibel! Und Analoges gilt für die Autoren des NT. In historischer Sicht wurde nun eben einmal die LXX in einem weit größeren Ausmaß als die Biblia Hebraica das AT des NT! M. faßt seine Überlegungen in zwei Schlußfolgerungen zusammen (118 f.):

"The first is that what we today call the Hebrew Ur-Text, that is, the Masoretic Bible text, was not the solid basis of Old Testament text transmission" ... "It is not possible, if only for historical reasons, to maintain that the Septuagint is merely a translation and thus a secondary witness in relation to the Jewish Bible. As emphasized by Robert Hanhart in particular, the Septuagint is in many respects a theologically outstanding version of the Old Testament, amplifying the religious traditions of Judaism".

Die LXX ist also "eine hervorragende Version des AT"! Ihre Text-Traditionen sind unverzichtbar für die Definition der jüdischen Bibel in den Jahrhunderten um die Geburt Jesu (119). ­ Haben aber die neutestamentlichen Autoren die LXX in gleicher Weise wie die Biblia Hebraica als inspiriert angesehen (so M. mit Pierre Benoit; 120, Anm. 59), war sie somit für sie die Bibel schlechthin ­ ergänzen wir diesen Gedanken: Für die Beurteilung der Geschichte Israels darf der Zeitpunkt der endgültigen Redaktion der Biblia Hebraica nicht gegenüber der übrigen Zeit dieser ca. tausendjährigen Geschichte bevorzugt gesehen werden! ­, ist somit aus der Sicht des NT und somit also aus christlich theologischer Perspektive eine theologische Bevorzugung der Biblia Hebraica gegenüber der LXX durch nichts gerechtfertigt, so ist mit M. zu urteilen, daß es ein "fataler Fehler" war, "to put it (sc. the Septuagint) aside in favour of the Hebrew-Aramaic text" (122). Zitieren wir auch folgende Stelle (122 f.):

"In a biblical theological context we must insist that the Septuagint is at least part of a canon. For, in a Christian theological context, it is historically incorrect to put the Septuagint in brackets when it comes to the question of the Old Testament of the Church. The history of the reception has a significance of its own".

Und es ist gut, daß M. hier den bezeichnenden Satz von Hartmut Gese anführt: "Ein christlicher Theologe darf den masoretischen Kanon niemals gutheißen; denn der Kontinuität zum Neuen Testament wird hier in bedeutendem Maße Abbruch getan".(1)

Das 6. Kap. ist überschrieben: Vetus Testamentum in Novo receptum. M. hat diese Wendung von mir übernommen, und zwar in dem Sinne, wie ich sie intendiert habe: Das Vetus Testamentum in seinem ursprünglichen Literalsinn muß vom Vetus Testamentum in Novo receptum unterschieden werden. Haben doch die neutestamentlichen Autoren die Schrift Israels von einem christlichen Vorverständnis her gelesen! Folglich ist der Rezeptionssinn weithin nicht mit dem Originalsinn alttestamentlicher Zitate identisch. Natürlich, im Einzelfall ist immer wieder eine gewisse inhaltliche Nähe zwischen beiden Vetera Testamenta festzustellen. Weitgehend ist aber durch das christliche Vorzeichen aus dem AT, und das heißt zumeist aus der LXX, eine neue inhaltliche Aussage geworden.

Die Christianisierung des AT ging aber weiter. Sobald es neben dem AT ein NT gab ­ erst dadurch wurde die Heilige Schrift Israels im christlichen Sinne zum Alten Testament ­, brachten Autoren wie z. B. Barnabas in wesentlicher Hinsicht neue Akzente in die Diskussion. Für Barnabas war die ganze alttestamentliche Religion ein riesiges Mißverständnis. So schließt M. dieses Kap. mit der Feststellung, daß nun das Alte Testament nicht allein das Vetus Testamentum in Novo receptum war. Nein, die erste Bibel der Kirche wurde jetzt durch einen neuen Teil ergänzt, wodurch die christliche Bibel entstand, nämlich Vetus Testamentum et Novum Testamentum (141).

Im Schlußkapitel, der "Konklusion", faßt M. das bisher Gesagte zusammen und kommt zu folgendem Schlußresümee (144): "The question of the first Bible of the Church is, how-ever, as already mentioned, also the question of the significance attached to the sacred writings of Judaism in the theological universe of the New Testament".

Insgesamt kann ich dem, was M. darlegt, fast durchweg zustimmen. Um aber wenigstens ein kritisches Wort zu äußern: Schade, daß er sich nicht zu folgender Schrift kritisch geäußert hat: K. Haacker/H. Hempelmann, Hebraica Veritas. Die hebräische Grundlage der biblischen Theologie als exegetische und systematische Aufgabe, Wuppertal 1990.

M.s Buch ist aus dem Dänischen ins Englische übersetzt worden. Das ist zu begrüßen, weil es so einem weiteren Leserkreis zugeführt wird. Vielleicht findet sich auch noch ein deutscher Verlag, der eine deutsche Übersetzung herausbringt.

Fussnoten:

(1) H. Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, in: ders., Vom Sinai zum Zion: Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (BEvTh 64 [1974] 16 f.)