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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1290–1293

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Weidemann, Hans-Ulrich:

Titel/Untertitel:

Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und Osterbericht.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. XIX, 573 S. gr.8° = Beiheft zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 122. Lw. Euro 138,00. ISBN 3-11-018103-7.

Rezensent:

Michael Labahn

Die bei M. Theobald angefertigte und durch seine wichtigen Beiträge stark geprägte Tübinger Dissertation widmet sich dem noch immer kontrovers diskutierten Thema des Todes Jesu im vierten Evangelium. Die Leitfrage lautet: »Welches theologische Verständnis der hier (in der Passionsgeschichte; M. L.) berichteten Ereignisse wird in der narrativen Gestaltung des Erzähltextes (Johannesevangelium; M. L.) greifbar?« (3) Jeder Text entwickelt seinen Sinn nicht allein aus dem Mikrokosmos seiner sprachlichen Zeichen, sondern auch aus der Interrelation seiner Textteile. Ihre Zuordnung im Textgefälle zu beschreiben und zu verstehen, ist also eine wichtige Aufgabe für jegliche Textinterpretation. Diese Relationen exakt zu bestimmen, ist beim vierten Evangelium eine im Bezug auf die Passionsgeschichte umstrittene und letztlich noch zu verrichtende Aufgabe. W. stellt sich ihr und leistet so einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um die literarische Struktur des Evangeliums sowie seine theologische Aussage.

Die These, aber auch ihre Voraussetzungen, lassen sich bereits dem Untertitel entnehmen. Die erste Abschiedsrede, der gegenüber Joh 15­17 als literarkritisch sekundär beurteilt wird (36 f.; ohne aufwändigen neuerlichen Begründungsversuch), ist der Schlüssel zur johanneischen Passions- und Auferstehungsgeschichte. W. verbindet eine methodisch in ihrem Leserkonzept kritisierte narrative Kritik mit diachronen Elementen: »Die Rückfrage nach dem Leser im Sinne eines ursprünglich angezielten Adressatenkreises ist Š im Zusammenhang der Literar- und Überlieferungskritik sinnvoll als Erhebung des Kenntnisstandes, von dem der Verfasser bei seinen Adressaten ausgehen konnte oder mit dem er rechnen musste« (35). In Joh 14,29 entdeckt W. das »Programm des Evangelisten« (37), das den engen Zusammenhang zwischen Abschiedsrede und Passionsgeschichte sichere (60). Methodisch und literarisch als »Leseanweisung« bestimmt, legt W. daher zunächst die erste Abschiedsrede aus, um das johanneische Verständnis von Jesu Tod und Auferstehung zu begreifen, und erst im Lichte dieser Analyse die Passions- und Auferstehungsgeschichte. Wird die Abschiedsrede auch als »Kommentar« (61 ff.) bezeichnet, so impliziert dies m. E. eine andere Leserichtung, da ein Kommentar als ðMetatextÐ dem kommentierten Text nachfolgt; W. sucht diese Gefahr durch folgende Bestimmung zu bannen: »Kommentartext im Sinne einer vorangestellten Leseanweisung« (61). Andere mögliche Signaltexte für das Thema werden nicht als Leseanweisungen beachtet; hier sind kritische Rückfragen, etwa im Blick auf Joh 11­12, zu stellen (z. B. Auferweckung des Lazarus als Vorwegnahme der Auferstehung Jesu; immerhin findet sich ein Plädoyer, solche Texte »im Blick zu behalten« [69]).

Die intensiven und methodisch wie philologisch gut reflektierten Analysen, in denen W. seine Thesen zu vertiefen sucht, sind auch dann, wenn man aus methodischen Gründen oder historischen Erwägungen anders votiert, glei chermaßen in struktiv. Im Folgenden seien einige vor allem für die Ergebnisbildung von W. bedeutende Thesen hervorgehoben.

Durch die Gattung »Abschiedsrede« werden die folgenden Ereignisse von Passion und Auferstehung unter Aufnahme von johanneischen Überlieferungen und Tradition durch den irdischen Jesus gedeutet; die Rezeption der Überlieferung erzeugt eine »Verzahnung von Passionsüberlieferung mit Spruchgut« (93). Ob allerdings die These der redaktionellen Einfügung von Joh 13,34 f. (95) noch hinreichend Plausibilität erzeugt, sei angefragt. In 13,31 f. werden zwei unterschiedliche Ereignisse genannt: Mit dem Verlassen des Jüngerkreises durch Judas findet eine Reinigung von satanischer Präsenz im Jüngerkreis statt, die W. als geschehene Verherrlichung Jesu interpretiert; die futurische Verherrlichungsnotiz verweist hingegen auf Abschiedsrede, Passion und Auferstehung. Der Eingang der Abschiedsrede vermittelt dem Leser, dass seine Situation sich von der der Jünger entscheidend unterscheidet. Die Petruskritik in 13,36­38 (weiter entfaltet in 18,12­27; vgl. bes. 300 f.309) differenziert zwischen der Situation des irdischen Jesus mit der Unmöglichkeit der Nachfolge und der der nachösterlichen Gemeinde. Pragmatische Schlüsselstellung für 14,1 ff. hat 14,9 als »Fundamentalsatz« (170), der auf das literarische Werk des vierten Evangeliums selbst zu beziehen ist: Die nachösterliche Gemeinde »ðsiehtÐ den irdischen Jesus im Johannesevangelium«.

Im Thema des zweiten Hauptteils, »Jesu Wiederkommen als Ostererfahrung« (193), wird die Parusie als »bereits« geschehen betrachtet, und zwar am Ostertag, der nach W. in der je individuellen Biographie im Kommen Jesu seine Entsprechung bekommt (s. auch 214). Wie Jesus kommt auch der Satan, aber dies Ereignis liegt zeitlich hinter dem Leser zurück; die dennoch ­ zu Recht ­ behauptete Durchlässigkeit des Auftretens des Satans für die Konflikte der johanneischen Gemeinde (Joh 6) wirkt hiermit etwas unausgeglichen.

Wie stark die Gesamtinterpretation von den literarkritischen Urteilen abhängt, zeigt sich daran, dass die Aussagen über den Herrscher der Welt durch den direkten Anschluss von 14,31 an 18,1 programmatische Bedeutung bekommen; W. spricht von einem »satanologischen code« (213). W. liest 18,1­11 im Horizont der vorausgehenden Kommentierung in der ersten Abschiedsrede; so findet sich hier die Begegnung Jesu mit dem Herrscher der Welt im Sinne präsentischer Eschatologie. Joh 18,1­6 wird, obwohl der Satan nicht erwähnt wird, zu einer Auseinandersetzung zwischen Jesus und Satan, der in 13,26 ff. von Judas Besitz ergriffen hatte. Indem Jesus negativ über die Juden und über Pilatus urteilt, inszeniert nach W. der vierte Evangelist erneut seine (präsentische) Eschatologie; die Begegnung mit dem Satan und das Gericht haben »bereits stattgefunden« (366). Die Verweise auf den Kaiser in Joh 19,13­15 führen zu seiner Identifikation als Repräsentanz des Satans (352). In die Interpretation vom Tod Jesu als erfolgter Überwindung des Satans ordnet W. die johanneische Passalamm-Konzeption ein (423­450).

Auch die literarkritische Vorentscheidung vom sekundären Charakter der Lieblingsjüngertexte (238­242) verändert die Kreuzesszene in entscheidender Weise. Wenn die bloße Anwesenheitsnotiz der Frauen zum Signal der »Kontinuität zum Irdischen durch Familienmitglieder« wird (381), so wirkt die Interpretation etwas gezwungen und erinnert letztlich an die Aussage der vorgeblich redaktionellen Passage 19,26 f.

W. rechnet mit einem vorjohanneischen Passionsbericht als Quelle des Evangelisten, wobei er sich der Frage nach der (möglicherweise auch partiellen) Abhängigkeit von synoptischen Passionsgeschichten pauschal entledigt (222). Der vorjohanneische Passionsbericht ist ­ wie W. mit Recht betont ­ sprachlich und sachlich durch die johanneische Gemeinde gestaltet und durch den Evangelisten in »einem differenzierten und komplexen Prozeß von Rezeption, Kommentierung, Kodierung und Selektion« verarbeitet (235). So ergeben sich methodische Schwierigkeiten, den vorevangeliaren Text zu rekonstruieren. Demgegenüber erhebt W. redaktionelle Nachträge sicher (237 ff.) und schließt zudem von der johanneischen Passionsüberlieferung auf die vormarkinische zurück (307).

Der Leitgedanke präsentischer Eschatologie wird auch zur Lösung des Bedeutungsgehaltes von ¤ in Joh 19,28 herangezogen. Wird die Besonderheit des Terminus gegen ¼ Þ unterstrichen, so verzichtet W. leider auf die sinngemäße Verhältnisbestimmung zu den johanneischen -Aussagen (besonders 13,1) zu Gunsten einer »polemischen Spitze gegen andere urchristliche Konzeptionen des Schriftgebrauchs«, die er in der Befragung nach futurisch eschatologischen Aussagen bestimmt. Polemik ist auch an anderer Stelle der Passionsgeschichte gestaltend; so deutet W. die Salbung als Kritik gegen ein »in der Synagoge verbliebenes Judenchristentum« (403), wobei die bekämpfte Christologie recht unklar bleibt.

Die Interpretation der Geist-Hingabe erfolgt im Rahmen hellenistischer Anthropologie; sie steht für die Heimkehr Jesu zum Vater (390; s. auch 407 f.). Das Moment der Geistgabe konstituiert hingegen 19,34 auf Grund des johanneischen »Metaphernnetz(es)« Wasser ­ Geist (396): »der von der ðauthorial audienceÐ (P. J. Rabbinowitz) gegenwärtig erlebte Geist-Paraklet Š hat seine Quelle im Gekreuzigten« (422).

Einen relativ kurzen Abschnitt widmet W. Joh 20, wozu sich die Ab schiedsrede wiederum als Kommentartext verhalte. Die zentrale Rolle des Thomasbekenntnisses (20,28) wird als »angemessene Reaktion des Glaubens gegenüber dem auferstandenen Gekreuzigten« herausgestellt; der Grundkonzeption über Geist, Geistgabe und Sündenvergebung in 20,21­23 (491), die den »geisterfüllten Raum der Gemeinde« konstituieren (503), folgt das »Thema des Gebets zu Jesu« (491). In V. 29 wird der Glauben des Thomas zum »Maßstab« des Glaubens der Nicht-Sehenden (493). Auch dies wird als Ausdruck präsentischer Eschatologie verstanden (512). Eigenwillig ist die Trennung der µ Ö in 20,30 f. von den in 2­11 geschilderten und die Begrenzung auf die Osterereignisse. Damit wäre keine kohärente Verwendung in einem Zentralbegriff zu beobachten. Insbesondere scheint mir diese Separierung an 2,11 vorbei zu gehen, wo µ Ö und Glaube der Jünger in einen grundlegenden Zusammenhang gestellt werden, der eine wesentliche semantische Schnittmenge mit 20,30 f. aufweist.

Die kritische Darstellung zeigt, dass W. eine grundlegende, zum Dialog herausfordernde Studie vorgelegt hat, in der er folgende wichtigen Leitvorstellungen der johanneischen Deutung des To des Jesu herausstellt: die präsentische Eschatologie, die »Vergrundsätzlichung von Ostern« (Dettwiler) und den Qualitätsvorsprung der nachösterlichen Jünger.

Die Suche nach hermeneutischen Schlüsseltexten bildet ein Problem. Sie richtet den Fokus auf bestimmte Partien eines Textes, setzt das ermittelte Zentrum gegen andere Texte ab und grenzt damit auch die Interrelationen von Teiltexten in einem Gesamttext merklich ein bzw. rückt sie in eine Hierarchie, deren Plausibilität im Vergleich zu anderen Texten immer eine im Diskurs zu ermittelnde Aufgabe bleibt. Hier stellen sich Rück fragen an die ansprechende Analyse von W. Schränkt die Klassifizierung der ersten Abschiedsrede als Schlüsseltext die Bedeutung anderer Beziehungstexte nicht zu schnell ein? Auch die Bestimmung des Prologs als Metatext im Sinne einer dem eigentlichen Textkorpus gegenüber sekundären Größe, die nicht »Schwelle« (so Zumstein), sondern »Summe« (dezidiert als Gegensatz zum erschließenden »Schlüssel« definiert: 29) ist, dokumentiert eine Schmälerung des innertextlichen Bezugs- und Interpretationssystems. W. weiß, dass andere Bezugstexte eine relevante Rolle spielen und so ein Netz an wechselseitigen Kommentierungen vorliegt; er erprobt dies unter Betonung der inhaltlichen Differenzen in einem Exkurs zur Relation zwischen 4,1­42 und 18,28­19,16 (322­324) und zwischen Kapitel 1 und 20 (462­465).

Register, Graphiken und Tabellen illustrieren das umfangreiche Opus und tragen zu seiner Les- und Rezipierbarkeit bei.