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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1288–1290

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stökl Ben Ezra, Daniel:

Titel/Untertitel:

The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XX, 445 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 163. Lw. Euro 94,00. ISBN 3-16-148092-0.

Rezensent:

Thomas Knöppler

Im Kontext einer Gegenüberstellung von Paulus und Lukas sah sich Martin Hengel unlängst zu der Bemerkung veranlasst, er könne sich »schwer vorstellen, daß nach dem Tag auf Golgatha für Lukas wie für die Judenchristen am Jom Kippur für Israel noch Sühne gewirkt wurde« (Der Jude Paulus und sein Volk. Zu einem neuen Acta-Kommentar, ThR 66 [2001], 338­368: 358). Die hier anzuzeigende Monographie unternimmt den Beweis des Gegenteils.

In einer breit angelegten Abhandlung zur Wirkungsgeschichte des Yom Kippur (= Versöhnungstag) im antiken Christentum untersucht der Vf. nach einer detaillierten Analyse dieses jüdischen Festes den Einfluss desselben auf frühchristliches Denken und Leben. Die Abhandlung wurde unter dem gleichnamigen Titel von der Hebrew University of Jerusalem im Mai 2002 als Dissertation angenommen und erscheint hier in überarbeiteter Fassung.

In seiner dreiteiligen Abhandlung geht der Vf. zunächst auf Vorstellung und Ritus des frühjüdischen Yom Kippur ein (11­141). Nach einer knappen Reflexion über die für diesen Tag gebräuchlichen Namen (15­17) setzt er zur Darlegung der Rituale (18­77) ein mit einer Bekräftigung des historischen Werts der Angaben im Mischnatraktat Yoma, erläutert anhand dieser Angaben kurz das Tempelritual und ausführlich das Volksritual abseits des Tempels. Nach der Zerstörung des Heiligtums lebte die Feier des Yom Kippur im Volksritual fort, das mit der rituellen Tötung von Tieren zum Zweck der Sühne über die Gebete, Lesungen und Sündenbekenntnisse hinaus Teile des Tempelrituals aufbewahrte.

In Hinsicht auf die mit dem Yom Kippur verbundenen Vorstellungshorizonte (»imaginaires«) der jüdischen Apokalyptik, des griechischen Diasporajudentums, der rabbinischen Auslegung und der Hekhalotschriften (78­141) hebt der Vf. hervor, dass der Eintritt des Hohenpriesters in das Allerheiligste zur Beschreibung der Begegnung des Gläubigen mit Gott diente und dass der Sündenbockritus apokalyptisch als Nichtung der Sünde und Bestrafung der bösen Mächte angesehen wurde, was sich rabbinisch in der eschatologischen Erwartung des Gerichtstags und der Erlösung auswirkte.

Der zweite Teil der Abhandlung befasst sich mit der Wirkungsgeschichte des Yom Kippur im Christentum des 1. und 2. Jh.s (143­257). Sehr ausführlich erhebt der Vf. dabei dessen Metaphorik im frühchristlichen Vorstellungshorizont (145­227). Zunächst beschreibt er eingehend den christologischen Bezug des Sündenbockmotivs: Die dem Doppelbild in Barn 7,3­11 zu Grunde liegende Typologie und ihre Wirkungsgeschichte werden analysiert, der auf das Motiv bezogene Gehalt der Barabbasperikope in Mt 27,15­23 wird freigelegt, die Rede vom rettenden Fluch in Gal 3,13 f. als mögliche Anspielung diskutiert und in Hinsicht auf Joh 1,29 wie auf 1Petr 2,22­24 geurteilt, dass dieses Motiv allenfalls den Bezug von Jes 53 auf Christus ausgelöst haben könnte.

Des Weiteren legt der Vf. dar, dass die Vorstellung vom Yom Kippur unter Aufnahme der jüdischen Tradition von einem Hohenpriester als endzeitlichem Erlöser zur Entstehung der Christologie des Hebr beigetragen habe. Auch die Identifikation Christi mit der Kapporet in Röm 3,25 f. belege den erheblichen Einfluss des Yom Kippur auf die frühchristliche Vorstellung vom Sühnetod Jesu. In 1Joh 2,2; 4,10 stehe ebenfalls der Yom Kippur im Hintergrund. Ein Bezug der frühen christologischen Hymnen in Kol 1,12­20 und in Phil 2,6­11 auf die Festliturgie sei dagegen bestenfalls Spekulation. Die Einstellung der ur christlichen Gemeinden zum Yom Kippur reiche von der Observanz des Festes bis hin zu seiner theologisch, historisch, liturgisch oder soziologisch motivierten Abschaffung.

Das jüdisch-apokalyptisch relevante Motiv des hohenpriesterlichen Eintritts in das Allerheiligste werde schließlich von den Valentinianern metaphorisch auf den eschatologischen Eingang Christi und der Pneumatiker in das Pleroma sowie auf das Mysterium des Brautgemachs bezogen (228­243). Eben dieses Motiv finde sich auch in den beiden judenchristlichen Legenden über den Herrenbruder Jakobus und über den Priester Zacharias (244­257).

Der dritte Teil der Abhandlung beschreibt die weitere Wirkungsgeschichte des Yom Kippur im Christentum (259­328). Der Vf. legt dar, dass die Aufnahme der auf den Yom Kippur bezogenen Vorstellungshorizonte bei den Kirchenvätern über die besondere Relevanz des Buches Leviticus hinaus auf den Einfluss der jüdischen Zeitgenossen zurückgehe (261­289) und dass die im 4. und 5. Jh. eingeführten, christlichen Herbstfeste in zeitlicher Parallele, in liturgischen wie religionspsychologischen Relationen und in kritischer Distanz zum Yom Kippur stünden (290­328).

Nach einer zusammenfassenden Beschreibung der Ergebnisse (329­334) beleuchtet der Vf. in einem Appendix noch die Bezüge der Osteranaphoren auf den Yom Kippur (335­343). Das Buch schließt mit je 50-seitigen Literaturangaben und Registern (345­445), wobei die Literaturangaben über 20 Seiten lang Titel zu den verarbeiteten Quellen bieten.

Die Breite der Abhandlung ist beachtlich: Sie trägt die verfügbaren hebräischen, griechischen, lateinischen, syrischen und armenischen Traditionen und in Übersetzung auch die georgischen, koptischen und arabischen Überlieferungen zusammen und verarbeitet sie auf den Feldern der Vergleichenden Religionswissenschaft, der Jüdischen Geschichte, der Neutestamentlichen Wissenschaft, der Kirchengeschichte und der Liturgiewissenschaft. Die umfängliche Kenntnis des thematisch relevanten Stoffes ist positiv zu würdigen.

Der Wert dieser breiten Verarbeitung von Traditionen wird jedoch insofern empfindlich geschmälert, als sie in nur begrenztem Maße gepaart ist mit konsequenter philologischer Arbeit: Interpretationsfreude dominiert die Basisarbeit am ursprachlichen Wortlaut (etwa von Lev 16 oder 1Joh 4,10). Verwunderlich erscheint auch, dass literarhistorische Gesichtspunkte bei der Behandlung der Texte eine nur untergeordnete Rolle spielen. Und den Gegenpositionen wird verschiedentlich (etwa zur Exegese von Mt 27,15 ff.) das argumentative Gewicht vorenthalten: Eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur hätte der Abhandlung gut getan und vor manchen einseitigen Interpretationen bewahrt.

Der Vf. hat zu Recht die Einwirkung kultischen Denkens auf die frühe Christologie und Soteriologie herausgearbeitet: Der auf das Urchristentum bezogenen These vom »decisive influ ence« (225) des Yom Kippur auf die Genese der Vorstellungen von Christi Sühnetod und seiner ewigen Interzession im himmlischen Allerheiligsten ist ebenso zuzustimmen wie der Einschätzung eines »enormous impact on early Christian sacrificial theology and the interpretation of the liturgy« (288). Dagegen erscheint der auf Apg 27,9; Röm 14,5 f.; Kol 2,16­19 sich stützende Beweis einer fortdau ernden Observanz des Yom Kippur in Teilen der Urchristenheit (s. 213 ff.329 ff.) wenig überzeugend: Die Gewährung von Sühne an Christus vorbei dürfte auch für »Christian Jews« kaum denkbar gewesen sein. Martin Hengel, »the nestor of New Testament scholarship« (213), hatte wohl doch Recht.