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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1286–1288

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stegman, Thomas:

Titel/Untertitel:

The Character of Jesus. The Linchpin to Paul¹s Argument in 2 Corinthians.

Verlag:

Roma: Editrice Pontificio Istituto Biblico 2005. 4, XI, 470 S. gr.8° = Analecta Biblica, 158. Kart. Euro 30,00. ISBN 88-7653-158-0.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Leser, deren Muttersprache Deutsch ist, stolpern vermutlich schon über den Untertitel dieses Buchs: Was ist ein »linchpin«? Das große Wörterbuch von Collins/Pons gibt zunächst »Achs (en)nagel, Lünse«, dann (als übertragene Bedeutung) »Stütze« an. Da die wörtliche Bedeutung hier ausscheidet, erübrigt sich die Frage, was genau ein Achs(en)nagel oder eine Lünse ist. Offenbar will S. mit dem Untertitel andeuten, dass in seiner Sicht der Charakter oder die Persönlichkeit Jesu die Argumentation des Paulus in 2Kor stützt. Näherhin ist die These der Arbeit (die auf eine von Luke T. Johnson betreute Dissertation an der Emory University zurückgeht), »that it is the character of Jesus that underlies the self-commendation of Paul¹s apostleship in 2 Corinthians, as well as his exhortations and challenge to the Corinthians to embody a particular manner of discipleship« (2). Dabei ist character identisch mit ethos im Sinne von »specific attitudes, virtues, and self-emptying mode of existence that Paul extrapolates from Jesus« (2). Es ist also der Bezug auf den Menschen Jesus und seine story, was die schwierige Argumentation des 2Kor zusammenhalten soll.

Zwei forschungsgeschichtliche Kapitel behandeln zunächst Teilungstheorien und die Gegnerfrage (5­42), dann rhetorische, insbesondere auf das Ethos bezogene Zugänge zum 2Kor (43­73). S. bekennt sich zur heute wachsenden Minderheit derer, die eine Einheitlichkeit des Briefs annehmen. In dieser und in der Frage nach der Identität der Gegner hat sich in seinen Augen gezeigt, dass die historische Kritik am 2Kor nur unzureichende Ergebnisse liefert. Benötigt sei eine andere Art von Zugang: die Rhetorik. Besonders wichtig ist S. an der rhetorischen Analyse die Frage nach dem Ethos (im Sinne eines rhetorischen Beweismittels), denn in seiner Sicht benützt Paulus das Ethos Jesu, um für sich selbst ein vertrauenswürdiges Ethos aufzubauen und die Gemeinde dazu zu bringen, sich dasselbe Ethos anzueignen. Definiert wird Ethos als »the complex of attitudinal, behavioral, and ethical traits that mark a certain person in his or her individuality« (71).

Den eigentlichen Textuntersuchungen stellt S. noch methodologische Überlegungen voran, von denen eine hervorzuheben ist: Er bezieht in seine Untersuchung bewusst auch die umstrittenen Paulusbriefe mit ein. Alle 13 kanonischen Paulusbriefe sind s. E. »products of a ðPauline schoolÐ, and were authorized by the apostle himself« (115).

Die drei Kapitel, in denen S. seine These entfaltet und belegt, sind sinnvoll aufeinander bezogen. Zunächst geht es um den Charakter Jesu in 2Kor (118­212), dann um die Verkörperung des Charakters Jesu durch Paulus (213­303), schließlich um die Aufforderung an die Korinther, sich den Charakter Jesu zu eigen zu machen (304­376). Aus diesen Kapiteln können hier nur wenige, in meinen Augen teils mehr, teils weniger überzeugende Textanalysen exemplarisch vorgestellt werden.

Eine Aussage zum Charakter Jesu findet S. zunächst in 2Kor 10,1: Paulus appelliert dort an die Gemeinde a É ¼ œ Ô d â¼ ÔÜ Ã ÔÜ. Der Genitiv ÔÜ Ã ÔÜ kann in der Tat nur ein genitivus subiectivus sein. In Frage steht aber, ob sich die Christus zugesprochene »Sanftmut und Milde« in seiner Kenosis bei der Inkarnation oder in seinem Erdenleben zeigten. S. argumentiert dafür, dass auf Letzterem zumindest der Schwerpunkt liegt (127 f.). Selbst bei einem Mitvollzug dieser Argumentation wäre es aber sehr fraglich, ob dieser Verweis auf den irdischen Jesus wirklich als der Hintergrund zu sehen ist, vor dem man die Kapitel 10­13 zu lesen hat (so 125).

Wenige Verse später spricht Paulus davon, dass er »alles Denken gefangen nimmt å c ñ¼ Ôc ÔÜ Ã ÔÜ« (10,5). Gegen die übliche Auslegung bestimmt S. den Genitiv hier wieder als genitivus subiectivus: »I contend that the apostle refers in 2 Cor 10:5 to Christ¹s obedience, and that he summons the Corinthians to ðcompleteÐ their obedience (10:6) by participat ing in the pattern of Jesus¹ obedience to God and to God¹s will« (134). Die Metaphorik des Kontexts schließt m. E. diese Deutung aus, denn Christus befände sich dann auf der Seite der von Paulus im Auftrag Gottes Besiegten und Gefangenen.

Für eine Verkörperung des Charakters Jesu durch Paulus verweist S. auf 4,10­12. Wenn S. die ¤ Jesu, die Paulus an seinem Leib herumträgt, als eine Deutung der eigenen Leiden im Licht der Leiden Jesu versteht, ist das eine echte Möglichkeit. Problematisch ist allerdings, was er zur ™ c ÔÜ ÔÜ schreibt, die an Paulus offenbar werden soll: »the apostle intimates that the ™ c ÔÜ ÔÜ is made manifest by his incarnating Jesus¹ self-emptying mode of existence, a manner of living that brings life to others« (252). Obwohl S. sieht, dass die ™ c ÔÜ ÔÜ hier das Leben des Auferstandenen meint (vgl. 4,14!), verbindet er sie merkwürdigerweise im Bezug auf Paulus mit der liebenden Existenz des irdischen Jesus.

Ein letztes Beispiel: In 1,21 f. hebt Paulus gegen Vorwürfe der Unzuverlässigkeit hervor, dass er an der Verlässlichkeit Gottes Anteil hat, die sich in Jesus Christus, dem »Ja« zu den Verheißungen Gottes (1,19 f.), gezeigt hat. Zu Recht sieht S. hier eine Stelle, wo sowohl Paulus wie die Gemeinde in die story Jesu (im weitesten Sinne) eingeschlossen werden (218­233.313 f.). Dass S. aber das »Ja« als das gehorsame Ja Jesu zu Gottes Willen, als seine aktive Kooperation mit Gottes Heilsplan deutet (141), halte ich für schwer begründbar.

Der Überblick und die Beispiele haben einige Schwachpunkte angedeutet. Während die These von S. an manchen der vielen von ihm besprochenen Stellen des 2Kor einleuchtet, sind es doch bei weitem nicht alle. Deshalb kann m. E. keine Rede davon sein, dass der Charakter oder das Ethos Jesu das alle Teile des 2Kor verbindende linchpin darstellt. Bei genauerem Zusehen ist ja auch fraglich, ob man überhaupt von einem »Ethos« im rhetorischen Sinn sprechen kann. Genügt dafür schon der bloße Hinweis (ohne erzählerische Konkretisierung) auf Eigenschaften wie ¼ œ und à ¿¼ , die im 2Kor von Jesus bzw. Paulus oder der Gemeinde ausgesagt werden? Von einer detaillierten story oder einem differenzierten Porträt Jesu sind die angeführten Stellen weit entfernt. (Dass die Angabe von Details deshalb nicht nötig gewesen sei, weil die Gründungspredigt solche bereits beinhaltet habe [118 f.], ist eine auch sonst beliebte Verlegenheitsantwort.)

Neben diesen grundsätzlichen Bedenken ist es zum Teil auch die Arbeitsweise von S., die Zweifel weckt. An mehreren Stellen entscheidet er sich gegen eine Auslegung, die der unmittelbare Kontext nahe legt, zu Gunsten einer Deutung, die von anderen Stellen des 2Kor, von anderen unstrittigen oder auch von um strittenen Paulusbriefen her vielleicht möglich ist. Das erinnert manchmal an den früheren Umgang systematischer Theologen mit dem Neuen Testament. Die hermeneutische Berechtigung dieses Vorgehens diskutiert S. leider ebenso wenig wie die theologischen Konsequenzen, die sich aus seiner Interpretation ergeben (z. B. die Frage nach der theologischen Möglichkeit, die story Jesu fortzusetzen).

Wenn sich auch kein neues Gesamtbild des 2Kor ergibt, liest man viele Auslegungen mit großem Gewinn. S. weiß, dass eine Interpretation des 2Kor einer Reise durch raues, unwegsames Gebiet gleicht. Seine Selbsteinschätzung ist: »This exploration of the text has revealed that the landscape is not only traversable; it is also breathtakingly beautiful« (377). Was die Schönheit dieser Landschaft betrifft, bin ich seiner Meinung, wenn ich auch einen anderen Weg wählen würde.