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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1283–1286

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lee, Aquila H. I.:

Titel/Untertitel:

From Messiah to Preexistent Son. Jesus¹ Self-Consciousness and Early Christian Exegesis of Messianic Psalms.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XII, 375 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 192. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-148616-1.

Rezensent:

Martin Karrer

Um das Jahr 30 stirbt Jesus von Nazaret. Die Römer, die ihn hinrichten, werfen ihm vor, er habe beansprucht, König der Juden zu sein. Für groß halten sie die von ihm ausgehende Ge fahr freilich nicht. Es genügt ihnen, dass sich seine Anhänger vor der Hinrichtung absetzen. Nach der Kreuzigung aber entwickeln Jesu Anhänger in kürzester Frist ein Verständnis Jesu, das den römischen Vorwurf noch überbietet: das eines Herrschers und universalen Herrn, der allen Mächten überlegen ist.

Diese Kehrtwende nach der Hinrichtung Jesu überrascht und fasziniert die Forschung. Viel spricht dafür, dass sie binnen weniger Jahre zu einer sehr hohen Christologie führte (weichenstellend M. Hengel, inzwischen L. W. Hurtado u. v. a.). Doch fast alle Details von den religionsgeschichtlichen Impulsen über die Rolle von Worten des irdischen Jesus sowie der Ostererfahrungen bis hin zur Datierung des christologischen Höhepunkts in der Formulierung der Präexistenz sind umstritten (Dunn u. a.; Forschungsbericht, 2­34). L. stellt sich in seiner bei I. H. Marshall verfassten Dissertation auf die Seite einer raschen Entwicklung bis zur Präexistenz und formuliert dazu folgende These (34­36 u. ö.):

Im 1. Jh. war das Judentum zutiefst monotheistisch geprägt und weigerte sich, das Sein einer zweiten Gestalt in personaler Hoheit neben Gott zu denken. Der irdische Jesus aber vertrat in diesem Rahmen ein Verständnis seiner Sohnschaft und seiner Sendung, das ihn in eine so einzigartige und tiefe Relation zu Gott setzte, dass darin ein Fundament neuen Denkens entstand. Dieses neue Denken entfalteten seine Anhänger nach Ostern mit Hilfe literarischer Vorgaben aus Israel, namentlich mit Hilfe von Ps 2,7 und 110,1. Aus Fundament (Jesu Selbstverständnis) und Katalysator (Israels Schrift) kristallisierte sich die Mitte der Hoheitschristologie heraus, die Auffassung, Jesus sei der präexistente Sohn, den der Vater sende, und der göttliche Herr (»Jesus¹ divinity«, 36).

Die These vereint konservative Aspekte ­ die Einzigartigkeit von Jesu Selbstverständnis und die frühe Dynamik zur Formulierung der Gottheit Jesu ­ und eine intensive Würdigung des Monotheismus sowie der Schriften Israels. Das verleiht ihr, verbunden mit ihrer umfangreichen, reflektierten Literaturbenützung, hohe theologische Kraft. Ebenso prägnant treten allerdings die Problemstellen der Argumentation hervor. Nennen wir die Schlüsselentscheidungen und Probleme, gegliedert nach den drei Teilen der Studie, Religionsgeschichte (Teil 1), Bild Jesu (Teil 2) und Rolle der Psalmenauslegung (Teil 3):

1) Die religionsgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte arbeitete innere Spannungen im jüdischen Monotheismus heraus. Weisheit, Wort und Name Gottes erhielten in einem Teil der Literatur hypostatischen Charakter. Erhöhte Engel und Figuren gelangten in die Nähe und Gegenwart von Gottes Thron. L. differenziert diese Erscheinungen zu Recht (Kapitel 2­3 [37­116]) und stellt überzogene Ansichten (z. B. die Präexistenz des Messias) begründet in Frage. Indes behandelt er nicht alle Phänomene gleich gewichtig. Die Steigerung Henochs in der Henochtradition etwa drückt er an den Rand (er streift sie erst 206­210), und die Möglichkeit, dass Joh 1,1­5* im Kern ein frühjüdisches Logoslied zitiere, klammert er aus (im ansonsten wichtigen Abschnitt über das Wort, 62­84).

Noch gravierender wirkt sich die Bestimmung aus, das frühe Judentum kenne allein rhetorisch-literarische Personifikationen, während es Hypostasen, die sich personal neben Gott verselbständigten, ablehne (wichtig für die Interpretation von Prov 8 usw.; 40.84 u. ö.). Denn damit ist das Gewicht der religionsgeschichtlichen Vorgaben für die personale Hoheitschristologie eo ipso zu begrenzen. Sie gewinnen ihren Rang in der Ent faltung, nicht in der Grundlegung der Christologie (bis 317). Wer in lebendiger Religion gleitendere Übergänge zwischen literarischem, hypostatischem und personalem sowie ontischem Artikulieren ausmacht, wird die frühjüdische Weisheits- und Worttheologie sowie Angelologie in der Vorbereitung der Christologie höher bewerten als L.

2) Zum Schlüssel wird in L.s Argumentation Jesu Selbstverständnis. L. hält für nachweisbar, dass sich der irdische Jesus in einzigartiger, alles übersteigender Beziehung zum »Vater« als Sohn Gottes verstand und sich von Gott gesandt wusste (Kapitel 4­5 [117­201]). Das fordert die kritische Forschungstradition nach Bultmann u. a. heraus. Doch sieht L. die Zeit dafür reif, da sich die Methodik für die Rückfrage zum irdischen Jesus wohlüberlegt über die alten Kriterien der Unähnlichkeit und Kohärenz hinaus entwickelte (26.122­125). ­ Die einzigartige Gottesbeziehung Jesu ergibt sich laut L. aus dem »abba« und den zur Vateranrede an Gott korrelierbaren Worten Mt 11,27; Mk 13,32; Mt 16,17; Lk 22,29; Mk 1,11 (Kapitel 4 [117­180]), Jesu Sendung aus dem Logienkreis um die Grundaussage »ich bin gekommen«/»ich bin gesandt«, also Mk 2,17 und 10,45 par; Lk 19,10; 12,49.51 par; vgl. Mk 9,37; Mt 15,24 (Kapitel 5 [181­199], vgl. 35 f.). L. sichert sich durch diffe renzierte Einzelerörterungen von der Auseinandersetzung mit Je remias¹ Abba-These (122­125.134) bis zur Wahrnehmung des sen, dass Sendungsaussagen im Allgemeinen eine Aufgabe be gründen, nicht einen Ursprung beschreiben (199 u. ö.), gegen den Vorwurf, unkritisch zu verfahren.

Trotzdem begibt sich L. auf eine schwierige Gratwanderung. Denn die Diskussion um die Bewertung der Einzelworte hält in der Forschung an. Darüber hinaus ist Jesu Beziehung zu Gott dem Vater, die L. so hervorhebt, in Israel gut verankert. Zudem teilt Jesus sie seinen Jüngern mit hohem Gewicht mit (Mk 11,25 par; Mt 5,45; 6,26; 10,29; Lk 6,36 par; 12,30 par.32; von L. unzureichend besprochen). So ist das Gefälle zwischen dem einzigartigen Vaterverhältnis Jesu und dem allgemeinen Vaterverhältnis des Jesuskreises in Israel schwer auszuloten.

Nicht minder kompliziert verhält es sich mit der Sendung. Auch nach L. legitimieren die Grundaussagen Jesu Person, ohne einen Rückschluss auf seine transzendente Herkunft zu erlauben (inkl. Mk 9,37 par; Mt 15,24 par [198 f.]). Um diese Grenze zu überwinden, stützt sich L. ausschlaggebend auf das Gleichnis von den bösen Winzern; weil es Sohnes- und Sendungsaussage enthält und im Vater Gott spiegelt, öffnet es s. E. den Weg des Sohnes aus der Transzendenz (199 f.). Doch erlaubt ein Gleichnis Rückschlüsse über die Ebene der Bildlichkeit hinaus? Im religionsgeschichtlichen Teil unterschied L. strenger literarische Aussagen und ontische Schlüsse (s. o.).

3) L. hält an einem österlichen Einschnitt fest, aber in einer sorgfältigen Gewichtung. Im irdischen Wirken verstanden die Jünger Jesus nie vollständig (»fully«), schlägt er vor (201). Deshalb bedurfte es eines Neueinsatzes, der an die vom irdischen Jesus gelegte Basis anknüpfen konnte. Entscheidend wurden insofern nicht neue österliche Erfahrungen, sondern die er schließenden Exegesen vor allem von Ps 110,1 und 2,7.

Dem Ps 110 widmet L. das Kapitel 6 (202­239), dem Ps 2 das Kapitel 7 (240­283), jeweils mit vielen wertvollen Erkenntnissen zur frühjüdischen Auslegungsgeschichte (inkl. LXX, Qumran, Apokryphen und ­ vor allem bei Ps 2 ­ rabbinischen Quellen) und zur ältesten christlichen Rezeption (bei Ps 110,1 zu Röm 8,34; 1Kor 15,25­27 bis Mk 12,35­37;14,62, bei Ps 2,7 zu Apg 13,33; Röm 1,3 f.; Hebr 1,5;5,5 sowie Mk 1,11).Am schwierigsten stellt sich die in diesem Gefälle einbeschlossene Bewertung der Ostererfahrungen dar. L. behandelt sie nicht eigens, obwohl er ihre Bedeutung keinesfalls mindern will. Unwillkürlich entsteht der Eindruck, aus ihnen ergebe sich in Verbindung mit dem Wort Jesu eine zwingende Linie der Schriftauswahl und Schriftwahrnehmung. Dennoch geht die Grunderfahrung den Reflexionen voraus. Das erweist sich spätestens an der joh Christologie-Entwicklung, die Sohnschaft, Präexistenz und Sendung nicht über Ps 2 und Ps 110 artikuliert (was L. allenfalls am Rande streift).

Die Konzentration auf die Genese der frühen Christologie wirkt sich noch weiter aus. So erkennt L. die hohe Bedeutung des Hebr, bespricht aber, was Ps 110 angeht, nur die Verknüpfung mit Ps 8,6 in Hebr 2,8 f., nicht eigens Hebr 1,3.13 (221 ff.). Was Ps 2 angeht, vernachlässigt er die nichtchristologische Rezeption, die sich bis ins späte Neue Testament hält (Apk 2,26 f.;19,15). L. erstellt also, streng besehen, das Bild einer ausgewählten, wichtigen und trotzdem nicht alleinstehenden Linie zur Hoheitschristologie. Den Schritt von der Hoheit Christi zur Präexistenz (den nicht alle Forschung für früh vollzogen hält) versucht er zu erweisen, indem er Ps 2,7 mit dem himmlischen Zion verknüpft und nach Ps 110 somit aus überzeitlicher Perspektive liest (280­283.321).

Kapitel 8 (284­316) rundet die These ab. Die Sendungsformeln vor und bei Paulus (Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f.) spiegeln laut L. den letzten Schritt der innerchristologischen Entwicklung (zu sätzlich angeregt, doch keinesfalls ausgelöst durch Weisheitstraditionen; 314 f.322). In der Entwicklung gehören sie hinter die durch Jesu Selbstverständnis angeregte frühchristliche Exegese. In der Sache formulieren sie deren Essenz, bekunden also Jesu Präexistenz (Entwicklungsschema: 316, zu Gal 4,4: 314; hier streift L. auch joh Aussagen, bes. Joh 3,16 f.; 1Joh 4,9).

Nach allem Gesagten trägt L. eine eindrückliche christologische These prägnant und mit vielen wichtigen Einzelexegesen vor. Seine sorgfältige Erarbeitung verlangt, ihn aufmerksam zu hören. Sach-, Stellen- und Autorenregister erleichtern die Be nützung. Andererseits bleiben an allen Nahtstellen Einwände möglich. L. entscheidet trotz seiner Argumente die Genese der frühen Hoheits- und Präexistenzchristologie nicht.