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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1280–1283

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hultgren, Stephen:

Titel/Untertitel:

Narrative Elements in the Double Tradition. A Study of Their Place within the Framework of the Gospel Narrative.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. XVIII, 421 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 113. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017525-8.

Rezensent:

Martin Hüneburg

Die Zwei-Quellen-Theorie kann ­ zumal in ihrer klassischen Ausformung ­ längst nicht mehr, wie dies Ph. Vielhauer in einem 1955 in dieser Zeitschrift erschienenen Aufsatz (»Zum synoptischen Problem«, ThLZ 80 [1955], 647­652) behauptet hatte, als Ende der quellenkritischen Arbeit an den Synoptikern gelten. Zwar konnte sich auf ihrer Grundlage die Q-Forschung als neuer Arbeitszweig erfolgreich positionieren, zugleich aber entstanden von innen heraus neue Anfragen, wie die nach der Bedeutung der minor agreements, der Interpretation der Überschneidungen von Mk und Q und dem Einfluss der mündlichen Tradition angesichts der großen Schwankungsbreite bei den Q zugeschriebenen Stoffen in der mt und lk Überlieferung. Die Antworten auf solche Anfragen führen nicht selten zur Bestreitung der Basisannahme und verweisen so das etablierte Lösungsmodel zurück auf den Status einer Theorie, die einer dauernden Überprüfung bedarf.

In seiner von E. P. Sanders betreuten, im Sommersemester 2001 von der Duke University, Durham, NC, akzeptierten und für den Druck leicht überarbeiteten Dissertation unternimmt es Stephen Hultgren nun, eine weitere klassische Annahme der Zwei-Quellen-Theorie zu hinterfragen, die Annahme nämlich, dass mit Mk und Q zwei unterschiedliche Stränge der Jesusüberlieferung vorlägen, wobei Mk den narrativ-kerygmatischen Zweig repräsentiere, während Q Redestoffe ohne jedes narrative Interesse überliefere. Eine Verbindung beider sei erst von Mt und Lk vorgenommen worden.

Unglücklich wirkt die geradezu stereotype Verbindung »narrativ-kerygmatisch«, da sie impliziert, dass die Logienüberlieferung ohne kerygmatisches Interesse erfolgt sei.

Der Genese dieser »false Dichotomy« wird im ersten Kapitel (4­56) in einem, bei Marsh und Schleiermacher einsetzenden, forschungsgeschichtlichen Überblick nachgegangen und ge zeigt, dass sie bis in die durch die formgeschichtliche Unterscheidung von Rede- und Erzählstoffen bestimmten stratigraphischen Modelle gegenwärtiger Q-Studien nachwirkt. H. verweist dabei vor allem auf das im amerikanischen Raum geradezu kanonisch gewordene Modell John Kloppenborg Verbins. Da aber Teile der Doppelüberlieferung bei Mt und Lk fest mit narrativen Elementen verbunden sind und Mk sich gegenüber manchen dieser mt-lk Überlieferungen als sekundär erweist, geht es darum zu prüfen, ob nicht auch der Jesusüberlieferung außerhalb des Mk eine narrative Struktur zu Grunde liegt. Damit nimmt H. die These Dodds von einem der Jesusüberlieferung vorgegebenen narrativen Rahmen auf. Anders als Dodd aber, der diesen in den mk Sammelberichten und den Predigten in Apg bewahrt sah und insofern im Rahmen der konstatierten Dichotomie verblieb, geht H. darüber hinaus, indem er sich vornimmt, eine narrative Grundstruktur in der Doppeltradition nachzuweisen.

Mit der Versuchungsgeschichte, der Hauptmannsperikope in Verbindung mit der Bergpredigt/Feldrede, der Täuferanfrage und der Dämonenaustreibung mit anschließender Beelzebulkontroverse liegen narrative bzw. narrativ gerahmte Stoffe vor, die im Allgemeinen der Logienquelle zugerechnet werden. Lediglich bei der Versuchungsgeschichte ist die Zugehörigkeit zu Q umstritten. H. geht allerdings noch einen Schritt weiter. »In addition, we shall conduct a full search of Matthew and Luke for other evidence of common non-Markan narrative traditions or narrative structure, including the passion narrative« (57). Die Betrachtung von Q als einer einzelnen Quellenschrift wird aufgegeben zu Gunsten der Annahme einer Überlieferungsschicht, die H. im Anschluss an J. D. G. Dunn mit »q« bezeichnet und die sich gegenüber der Logienquelle als wesentlich umfassender darstellt. Die Identifikation der Doppelüberlieferung q mit Q sei »one of the major weakness in all Q research« (60).

Leider entgeht H. in seinem forschungsgeschichtlichen Überblick nicht der Gefahr einer gewissen Einseitigkeit. Trotz aller Distanz zum Ansatz der Q-Forschung wäre es sinnvoll gewesen, die von dort kommende Neubewertung der narrativen Elemente und die Überlegungen zur Gattung von Q jenseits des Kloppenborgschen Modells aufzunehmen und zu diskutieren. Zwar konstatiert er: »A few scholars, however, are now beginning to break with this ðorthodoxyÐ (Q als einer ­ zumindest von der Entstehung her ­ reinen Spruchsammlung ­ M. H.)« (56), geht aber auf die dabei vorgelegten Thesen an keiner Stelle ein. Auch die für sein Thema wichtige Arbeit von J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, Neukirchen 1997, in der dieser zeigen kann, dass Q strukturell Mk sehr viel näher steht als dem EvThom, wird zwar im Literaturverzeichnis genannt, aber nicht benutzt.

Aus der Unterscheidung von q und Q folgt für H. eine erhebliche Erweiterung der Materialbasis. Die relevanten Texte werden zu sechs Komplexen zusammengefasst, im folgenden Hauptteil der Arbeit (62­309) jeweils auf ihr narratives Interesse hin untersucht und mit Mk wie auch mit Joh verglichen.

Behandelt werden folgende Textkomplexe: Mt 11,2­6.7­11/Lk 7,18­23.24­28: »Are You the One to Come? On the Relationship between John the Baptist and Jesus« (62­94); Mt 4,1­11/Lk 4,1­13: »The Obedient Son of God: The Temptation and the Passion« (95­127); Mt 4,12­16/Lk 4,14­31a: »From Nazareth to Capernaum: The Beginning of the Galilean Ministry (128­190); The Early Galilean Ministry (in and around Capernaum)« (191­217); »Later Galilean and Judean Ministries« (218­255); »The Passion Narrative« (256­308).

Da H. sich sonst der von den kanonischen Evangelien vorgegebenen Abfolge anschließt, verwundert der Einsatz mit Mt 11,2­11/Lk 7,18­28 zunächst. Er wird jedoch verständlich, insofern H. in dem Johannes-Jesus-Komplex einen Reflex auf die Zeit zwischen der Verhaftung des Täufers und dem Beginn der galiläischen Wirksamkeit Jesu sieht, die zwischen Mk 1,13 und 14 liegt und in die auch Joh 3,25­30 gehört (81 f.).

Das Schlusskapitel (310­354) fasst nicht nur den Befund hinsichtlich des narrativen Rahmens der Doppelüberlieferung zusammen, sondern geht auch auf die Bedeutung der Ergebnisse für das synoptische Problem, das Verhältnis zwischen Jo hannes und den Synoptikern, die Frage nach dem historischen Jesus und die Jesusüberlieferung ein. Bibliographie und vier Indizes (Scripture References, Other Ancient Sources, Modern Authors, Subjects) schließen das Werk ab.

Da H. in jedem der untersuchten Komplexe, wenn auch mit unterschiedlicher Sicherheit, ein narratives Interesse findet, dessen Spuren sich auch bei Mk und Joh nachweisen lassen, kommt er zu dem Ergebnis, dass den Evangelientraditionen insgesamt ein gemeinsamer narrativer Rahmen zu Grunde liegt, der von der Taufe Jesu bis zur Passion und Auferstehung reicht und bei Mt und Lk in einer gegenüber Mk ursprünglicheren Fassung vorliegt. Dieses »traditional framework« besteht aber nicht nur als formale Größe. Es gewinnt durch den Schriftbezug eine kerygmatische Ausrichtung. Die Basileiaverkündigung Jesu und seine Wunder werden durch den Rückgriff auf Jes 52,7 und 61,1­2 interpretiert, während die Auslegung von Ps 22,9 die Tauf- und Versuchungsgeschichte mit der Passionserzählung verbindet. Die gleiche formale, kerygmatische und schriftbezogene Struktur begegnet auch in der Petrusrede in Apg 10,34­43 (324). Durch die im narrativen Rahmen bezeugte »common memory of Jesus« ist die historische Frage zwar nicht einfach beantwortet, aber »that framework ­ in its fullness ­ deserves to be accorded a considerable degree of historical reliability« (353).

Auch wenn die weiträumig angelegte Arbeit zahlreiche Details bezüglich der narrativen Elemente herausarbeitet und damit wichtige Beobachtungen zu deren Bedeutung beibringen kann, vermag sie in ihrer Hauptthese doch nicht zu überzeugen. Dies hat vor allem methodologische Gründe.

H. wendet sich dezidiert gegen die Gleichsetzung der Logienquelle (Q) mit der Doppeltradition (q) und rechnet Letzterer erheblich mehr Stoffe zu. Damit stellt sich aber die Frage nach den Kriterien einer solchen Zuordnung. Dieses Problem wird jedoch nicht eigens reflektiert. Im Gang der Untersuchung wird die Beweislast zum einen den minor agreements aufgebürdet (vor allem in Kapitel 7: Passion Narrative), zum anderen den Hinweisen, die die Kenntnis einer gemeinsamen Tradition belegen sollen, auch wenn diese selbst nicht aufgenommen wurde. Wie dünn das Eis ist, auf dem sich H. damit bewegt, wird immer wieder deutlich.

In Kapitel 4 soll aufgezeigt werden, dass in der Doppelüberlieferung auf die Versuchungsgeschichte die Erzählung von der Abweisung Jesu in Na zaret Lk 4,16­30 folgte. Aber weder die ­ in der Tat ­ auffällige Bemerkung Mt 4,13 noch die singuläre Lesart ™ ¿ (Mt 4,14/Lk 4,16) können mehr belegen, als dass Nazaret am Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu in q oder ­ folgt man IQP ­ in Q eine Rolle gespielt hat. Dass Mk 6, 1­6/Mt 13,53­56 ursprünglich in diesen Zusammenhang gehörte, der auch von Joh 4,44 vorausgesetzt wird (177) und von diesen Rezipienten unter Auslassung der Jesajalesung umgestellt wurde, ist dagegen kaum plausibel zu machen. Auch das zusätzliche Argument, der im Zusammenhang der Hauptmannsperikope beklagte Glaubensmangel Israels Mt 8,10/Lk 7,9 verweise auf eine solche Erzählung, ist äußerst schwach, denn H. muss zugleich im Blick auf Mt 11,21­24 par feststellen: »On a more general level, however, it must be remembered that the gospels preserve only a portion of the traditions about Jesus« (194).

Noch problematischer erscheint die Argumentation in Kapitel 5 bei dem Versuch nachzuweisen, dass auch der Kafarnaumzyklus Mk 1,21­6,13 auf dem gleichen narrativen Rahmen beruht, der in der Doppelüberlieferung vorliegt. Mk 1,21­6,13 ist sicher eine mk Komposition. Nach H. gehören allerdings die Summarien zu einer vormk Tradition, die der Evangelist dupliziert und erweitert und aus der er eine Komposition von parallelen Einheiten schafft (vgl. die Übersicht auf S. 198). Diese von den narrativen Summarien bestimmte Grundstruktur ist bei Mt und Lk, die darauf unabhängig von Mk zurückgegriffen haben, ursprünglicher erhalten. Die Begründung für diese These ist allerdings zirkulär. So wird etwa aus der Parallelität von Lk 4,40 f. zu Mk 1,32­34 und Mk 3,11­12 geschlossen: »This suggests that Mark 1.32­34 (Luke 4.40­41) and Mark 3.11­12 represent the same traditional material, to which Luke also had independent access« (200). Weiterhin könne Lk 5,15 nicht von Mk 1,45 abhängen, da die Erwartung des ù¯ Ô , nicht nur geheilt zu werden, sondern auch Jesus zu hören (à Ô ), von daher nicht erklärbar wäre. Vielmehr ergibt sich daraus für H.: »The two passages (in both Mark and Luke) represent the same traditional material, and this material had the purpose of introducing the Sermon with a gathering of the crowds. Š Mark has preserved the introduction to the Sermon but has omitted the Sermon itself« (203). Die Frage, warum Mk die Bergpredigt/Feldrede ausgelassen habe, wird lediglich mit einem Verweis auf den Aufsatz Vaganays aus RB 58 (1951) beantwortet: »The author gives possible reasons for Mark¹s omission of this material on pp. 32­46« (206, Anm. 32). Unter der Voraussetzung, dass Joh 2,12 vorjohanneisch zwischen Joh 4,46a und 46b stand, zeige vielleicht auch der vierte Evangelist eine Kenntnis dieses Rahmens (212 f.).

Einer genaueren Begründung und Entfaltung bedürfen schließlich auch die Überlegungen zum Überlieferungsweg dieses traditional framework. Die Doppelüberlieferung (q) liegt nach H. nicht in der Form einer einzelnen schriftlichen Quelle vor, sondern als »a variety of sources (be they written or oral)« (329), hinter denen der narrative Rahmen als eine Art Urevangelium steht. Als dessen Tradenten wären wegen der zentralen Stellung der Missionsrede die Apostel vorstellbar (349). »Lessing¹s Ur-gospel hypothesis had the potential to explain the problem of order on the basis of a traditional narrative framework, inasmuch as he thought that the Ur-gospel was rooted in apostolic, oral tradition« (341). H. entwickelt so ein Modell der Evangelienentstehung, dass die Benutzungshypothese mit der Mk-Priorität, freilich unter Verzicht auf Q als zweiter Quelle, mit Lessings Urevangeliums- und Herders Traditionshypothese verbindet. Gerade angesichts der von H. immer wieder betonten kerygmatischen Ausrichtung dieses traditional framework stellt sich die Frage nach dessen »Sitz im Leben«, und es erscheint als äußerst unwahrscheinlich, dass es in Form einer ursprünglich einheitlichen common memory of the Early Church vorlag, die erst durch die Verfasser der Evangelien aufgelöst wurde.

Trotz aller kritischen Vorbehalte besteht das Verdienst dieser Studie darin, dass sie zu einer Neubewertung der narrativen Elemente der Doppelüberlieferung herausfordert und dazu zahlreiche wertvolle Beobachtungen liefert. Hier wird das Gespräch weitergehen müssen.