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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1272–1275

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Langston, Scott M.:

Titel/Untertitel:

Exodus Through the Centuries.

Verlag:

Oxford: Blackwell 2006. XIV, 294 S. m. Abb. gr.8° = Blackwell Bible Commentaries. Kart. £ 24,99. ISBN 0-631-23524-8.

Rezensent:

Hennning Graf Reventlow

Dies ist der erste erschienene Band in einer neuen Reihe, und wenn diese auch vom Verlag als ðBibelkommentareÐ eingeführt wird, weicht sie doch im Charakter von dem gegenwärtig Üb lichen ab.

Schon an diesem Band lässt sich das Programm der neuen Reihe eindeutig erkennen. Die Serienherausgeber bemerken in ihrem Vorwort, beabsichtigt sei eine Rezeptionsgeschichte der Bibel: »The series emphasizes the influence of the Bible on liter ature, art, music, and film, its role in the evolution of religious beliefs and practices, and its impact on social and political devel opments« (XI). Berücksichtigt werden sollen patristische, rabbinische und mittelalterliche Exegese sowie Ergebnisse moderner Kritik. Wie man schon an diesem ersten Band sieht, ist das Ergebnis eine Materialsammlung recht verschiedener Art. Der Vf. selbst unterscheidet in seiner Einleitung (1­12) als Hauptuntergebiete: 1. Jüdische und christliche Verwendungen. 2. Po litische und soziale Anwendungen. 3. Auf Unterdrückte und Unterdrücker bezogene Anwendungen. 4. Künstlerische Verwendungen. Als Hauptziele bezeichnet er einmal, möglichst viele interessante Anwendungen des Exodusbuches zusammenzubringen, zum anderen, die Leser zu weiteren Überlegungen in diesem Zusammenhang anzuregen. Er selbst weist sich als Bi belwissenschaftler aus, der außerdem Historiker der amerikanischen Geschichte sei. Hierdurch erklären sich offensichtlich die zahlreichen Beispiele von auf Exodus bezogenen Äußerungen aus der Periode des amerikanischen Bürgerkrieges.

Zur Gesamtanlage des Werkes erklärt der Vf., er habe jeweils wichtige Äußerungen aus der Rezeptionsgeschichte aufgenommen, auch Ergebnisse historisch-kritischer Untersuchung, ohne sich in derartigen Analysen zu engagieren, vielmehr als »reflections of the modern experience« (12). Darin wird schon die besondere Tendenz eines derartigen »Kommentars« deutlich. Vom Charakter her ist er eklektisch, und die Auswahl der Beispiele ist in gewisser Weise beliebig. Dadurch unterscheidet er sich von der mittelalterlichen Glossa Ordinaria, die einen möglichst umfassenden Überblick über vorliegende exegetische Beobachtungen zu liefern trachtete.

Gegliedert ist der Stoff in größere Abschnitte und kleinere Unterabschnitte des Exodusbuches. So wird z. B. Ex 1­2 (13­41) in die Unterabschnitte Ex 1,1­14; 1,15­22; 2,1­10; 2,11­25 gegliedert. Ein Schlussabschnitt »Moses and Modern Bio graphies« (38­43) geht unter einer etwas missverständlichen Überschrift auf eine Reihe dichterischer und romanhafter Le bensschilderungen Moses¹ (einschließlich Verfilmungen) ein, wobei ihm der Gesichtpunkt besonders wichtig ist: »The mean ing of a biblical text does not reside merely in its original mean ing, but in the conversation between the ðoriginal author¹sÐ context and the interpreter¹s context« (39). In dieser Hinsicht re feriert er besonders ein amerikanisches Schauspiel von Law rence Langner, »A Play, a Protest, and a Proposal« (1924).

Das Buch verlockt besonders dazu, Beobachtungen zu einzelnen Abschnitten herauszugreifen, wie z. B. gleich zu Ex 1­2. Schon diese weniger beachteten Kapitel laden dem Vf. nach dazu ein, Themen wie Leiden, Unterdrückung, Macht, Hoffnung, Geschlecht, Rasse und Klasse zu behandeln. »Subsequent readings illustrate how easily the biblical text is re-contextu alized in different settings« (14).

Freilich verbirgt sich dahinter die zentrale hermeneutische Frage nach Aufgabe und Ziel der historisch-kritischen Forschung in ihrem jahrhundertelangen Kampf gegen die Beliebigkeit und Willkür, die als Gefahr am Rande jeder Aktualisierung lauert. Aktualisierung ja ­ sie ist notwendig, wenn die Bibel nicht ihre Bedeutung für die Gegenwart verlieren soll, und ist generell Grundlage jeder Predigt ­, aber doch nicht der umgekehrte Weg, eine gerade populäre Ideologie zum Ausgangspunkt zu nehmen und dafür Belegtexte in der Bibel zu suchen. Auch diese Methode ist nicht neu ­ man findet sie schon in den dicta probantia orthodoxer Dogmatik, ohne dass diese Parallele gewöhnlich in den Sinn kommt. Gerade sie genießt aber in den verschiedensten Situationen neuerer Zeiten eine ungeahnte Popularität, von der Befreiungstheologie bis zum Feminismus. ­ Der Vf. macht jedoch darauf aufmerksam, wie derartige aktualisierende Deutungen keineswegs wie selbstverständlich in die gleiche Richtung gehen müssen. Dies geschieht im Zusammenhang mit den Berichten über das eigentliche Exodusgeschehen im Abschnitt Ex 13,17­15,21 (126­169). Zu diesem zentralen Abschnitt, dessen Aktualisierungen als »Exodus-Paradigma« be sonders gut bekannt sind, findet er in der Geschichte der USA während der Periode des Bürgerkriegs (141­151) genau entgegengesetzte Berufungen auf das biblische Exodusgeschehen: Nordstaatler, die sich für Sklavenbefreiungen nach diesem Vorbild einsetzen, Südstaatler, die umgekehrt auf die Gefahren einer solchen Freilassung hinweisen. Diese Auseinandersetzungen reichen ja bis nahe an die Gegenwart heran.

Zu manchen Abschnitten ist es nützlich zu erfahren, dass auch sie aktualisierend gedeutet wurden. Dazu gehören vor allem die Abschnitte über das »Zelt der Begegnung« in Ex 25­31 und 35­40. Es ist lehrreich zu erfahren, dass gerade diese Ab schnitte, die im Windschatten der Interessen moderner ethisch ausgerichteter Exegese stehen, für die jüdische und christliche Auslegung früherer Zeiten eine durchaus zentrale Bedeutung haben konnten (vgl. 221­228.250­253). Dazu gehört die Auffassung von einem himmlischen Heiligtum in der zwischentestamentlichen Literatur und bei Philo, von dem das irdische ein Abbild ist, wie die altchristliche und mittelalterliche als Vorabschattung der Kirche (221­222). Insbesondere die allegorische Auslegung von Ex 24,12­30,21 bei Beda wird als Beispiel herangezogen (224­225). Bemerkenswert ist auch das Verständnis von Bezazel, dem in Ex 31 erwähnten Kunsthandwerker, als Symbol für das spirituelle Werk der Gläubigen (226 f.). Methodisch geht der Vf. dem Programm der Reihe entsprechend bei der Behandlung eines einzelnen Abschnittes chronologisch vor, wobei er, wie er in seiner Einleitung andeutet, außerhalb seiner Spezialgebiete die Erkenntnisse von Experten übernimmt und auf deren Weiterarbeit in den aufgezeigten Gebieten hofft (11). Auf diese Weise kommt eine ganze Menge von Material zusammen. Ein anderes Beispiel ist etwa die Rolle, die Pharaos Tochter bei der Rettung Moses aus dem Nil (Ex 2,1­10) spielt (20­31). Ganz verschiedene Urteile treten da zu Tage, ebenso bei den anderen Frauen, die in Moses¹ Geburtsgeschichte eine Rolle spielen.

Es gibt auch Zeugen, die immer wiederkehren, wie Philo und Josephus (vgl. jeweils den Namensindex, 290­291). Um deren Äußerungen zu den jeweiligen Themen recht einordnen zu können, ist allerdings eine genauere Kenntnis ihrer geistesgeschichtlichen Voraussetzungen (wie bei Philo des Platonismus) erforderlich. Ab und zu finden sich auch entsprechende Erklärungen, etwa zu N. Machiavelli (97), aber mehr beiläufig, denn sie liegen eigentlich außerhalb des Systems.

Eine Besonderheit dieses Kommentars ist dagegen, dass er auch den Bereich der bildenden Kunst einbezieht. Welch breite Verwendung die Bibel und biblische Szenen in der Malerei vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit fanden, ist eine bekannte Tatsache. Der Vf. bringt allerlei Beispiele, auch solche aus Literatur und Theater (z. B. zu Ex 13,17­15,21; vgl. 153­159). Am Beispiel der Malerin Maja Lisa [Jensen] Engelhardt [*1956] zeigt der Vf., dass solche auch bis in die Gegenwart reichen. Frau Engelhardt genießt auch den Vorzug, dass einige ihrer Bilder als Farbdrucke wiedergegeben werden (zwischen 98­99). Es gibt auch sonst allerlei Illustrationen, leider nur in Schwarz-weiß, was sie manchmal (wie Abb. 5; 51) recht un deutlich werden lässt.

Alles in allem ist dies eine reichhaltige Materialsammlung, die dem Kenner mancherlei Anregungen vermittelt. Eine wirkliche Systematik ist nicht erkennbar und in diesem Rahmen auch nicht möglich. Es liegt in der Natur der Sache, dass über die von ihm skizzierten Entwicklungen hinaus der eigene Standpunkt des Vf.s nicht recht hervortritt, wohl aber sein Interesse an der vielfältigen Aktualität der Bibel. Was er überzeugend sichtbar macht, ist die lebendige Wirkung, welche die Bibel, speziell das Buch Exodus, in der Wirkungsgeschichte zu verschiedenen Zeiten bis in die Gegenwart hinein, bei Juden und Christen gespielt hat. Das ist keine grundsätzlich neue Einsicht, aber ein neuer Anstoß in dieser Richtung ist durchaus zu begrüßen. Um sie wirklich fruchtbar zu machen, ist freilich neben Vorkenntnissen über Personen, ihre Denkvoraussetzungen und Zeiten die weitere Vertiefung der Leser in die geschichtlichen Zusammenhänge und Wirkungen erforderlich. Dass hier die zentralen Fragen erst anfangen, vor allem die nach der Berechtigung der jeweils aktualisierenden Deutungen, sollte nicht vergessen werden.