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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1268–1270

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nordsieck, Reinhard:

Titel/Untertitel:

Das Thomas-Evangelium. Einleitung ­ Zur Frage des historischen Jesus ­ Kommentierung aller 114 Logien.

Verlag:

2. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. 401 S. 8°. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-7887-1867-6.

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Die Studie widmet sich einer Schrift, die unter allen neutestamentlichen Apokryphen die mit Abstand größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seit im Jahre 1945 im Rahmen der sogenannten Nag-Hammadi-Bibliothek eine vollständige koptische Übersetzung des Thomasevangeliums gefunden wurde, wird kontrovers diskutiert, ob dieses Werk frühe Jesus-Traditionen enthält, die weniger literarisch und theologisch überarbeitet sind, als dies bei den neutestamentlichen Evangelien der Fall ist. Der von N. vorgelegte Kommentar zeichnet sich durch einen klar strukturierten und leserfreundlich gestalteten Aufbau aus. In den einleitenden Vorüberlegungen werden zunächst die methodischen Grundprobleme einer Interpretation des Thomasevangeliums (vgl. 7­23) und einer Erfassung der Authentizität von Jesus-Worten (24­30) skizziert. Diese zweiteilige Einleitung spiegelt sich auch in der Kommentierung der einzelnen Logien des Thomasevangeliums (31­390). Nachdem N. zu nächst jeweils eine komprimierte Übersicht der gegenwärtigen Forschungsdiskussionen bietet, debattiert er nach der Begründung seiner eigenen Einschätzungen, inwieweit diese Traditionen auf Jesus selbst zurück geführt werden können.

Ein Verdienst der Studie von N., der hauptberuflich eigentlich als Jurist tätig war (!), besteht zweifelsohne darin, dass sie das facettenreiche Spektrum der nach wie vor ausgesprochen kontroversen Beurteilungen des Thomasevangeliums auch für Leser zugänglich macht, die nicht mit den einzelnen fachwissenschaftlichen Diskussionsfeldern vertraut sind. Gleichwohl fordert sie in mehrfacher Hinsicht zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus, die im Rahmen einer Rezension allerdings nicht en détail geführt werden kann. Im Folgenden soll lediglich thetisch angedeutet werden, warum an den Argumentationsstrukturen von N. symptomatisch die methodischen und religionsgeschichtlichen Probleme einer Interpretation des Thomasevangeliums zu Tage treten, die dazu führen, dass dieses Werk nach wie vor ausgesprochen unterschiedliche Einschätzungen erfährt.

Der Kommentar steht einer Auslegungstradition nahe, die bisher vor allem in nordamerikanischen Diskussionsbeiträgen entfaltet wurde. Dieser u. a. auf den Vorarbeiten von Helmut Koester und James M. Robinson basierende Interpretationsansatz versteht das Thomasevangelium als das Zeugnis einer von den synoptischen, paulinischen oder johanneischen Schriften unabhängigen ðvierten EntwicklungslinieÐ innerhalb des frühen Christentums, für die Themen wie z. B. christologische Ho heitstitel, die apokalyptischen Züge der Botschaft Jesu, die Heilsbedeutung des Todes Jesu bzw. seine Auferstehung keine Rolle spielen. In dieser Traditionsbildung werde Jesus primär als eine Lehrergestalt dargestellt, deren Botschaft im Sinne frühjüdischer Weisheitstraditionen zu verstehen ist. Ferner wird davon ausgegangen, dass das Thomasevangelium in einem traditionsgeschichtlichen Verhältnis zu weiteren Thomastraditionen steht (z. B. zur Gestalt des Thomas im Johannesevangelium und zu den Thomasakten). Entsprechend wird postuliert, dass die Wurzeln des Thomasevangeliums in einem syrisch-palästinischen Kontext zu verorten wären, die sich von dort in unterschiedliche geographische Richtungen entfaltet haben. Da das Thomasevangelium eine formale und inhaltliche Affinität zur Lo gienquelle Q, zu weiteren Dialogevangelien und zu jüdischen Weisheitstraditionen aufweise, sei es möglich, seine früheren Text stadien zu rekonstruieren. Und die sprachlichen und inhaltlichen Eigentümlichkeiten der Logien des Thomasevangeliums (z. B. das Fehlen einer narrativen Einbettung, einer Allegorisierung der Gleichnisse Jesu, der Rekurse auf alttestamentliche Traditionen etc.) würden dafür sprechen, dass selbst in der koptischen Textfassung noch relativ frühe Entwick lungsstadien von Jesus-Traditionen erhalten seien, die noch nicht von den Deutungsversuchen der zweiten und dritten Generation des frühen Christentums überformt sind. Da die frühen Textstadien des Thomasevangeliums zu den ältesten Zeugnissen des frühen Christentums zu zählen seien (N. plädiert für eine Entstehungszeit zwischen 40 und 70 n. Chr. [vgl. 19 f.]), dürfe es als das ðfünfte EvangeliumÐ (so im Anschluss an S. L. Davies) gegen über den neutestamentlichen Evangelien nicht vernachlässigt werden. Entsprechend sei das Thomasevangelium auch in ge genwärtigen systematisch-theologischen Reflexionen zu berück sichtigen, da es durch »seine vordogmatische Haltung Š einen Beitrag zur Erneuerung der Kirche und zur Entkrampfung des Verhältnisses der Konfessionen und Religionen zueinander leisten« könne (22).

Diese Einschätzungen basieren auf problematischen Prämissen. Unstrittig ist, dass es sich bei der koptischen Übersetzung und den griechischen Fragmenten des Thomasevangeliums um verhältnismäßig junge Textzeugen handelt (während die koptische Übersetzung kaum früher als in der ersten Hälfte des 4. Jh.s entstanden sein kann, werden die griechischen Fragmente ge meinhin zwischen dem späten 2. Jh. [P. Oxy. 1,1­42] und dem Anfang bzw. der Mitte des 3. Jh.s datiert [P. Oxy. 654,1­42 bzw. P.Oxy 655; col. 1,1­col. 2,23; d 1­5]). Strittig ist jedoch, inwieweit es möglich ist, frühere Textstadien zu rekonstruieren. Zu nächst ist zu betonen, dass sich die vorliegenden Texte des Thomasevangeliums formal und inhaltlich markant von der Logienquelle Q unterscheiden. Einerseits fehlen im Thomasevangelium Elemente, die für das theologische Profil der Logienquelle von konstitutiver Bedeutung sind (vor allem die geographische und chronologische Verortung der Worte und Taten Jesu, die Menschensohnerwartung etc.). Andererseits lässt sich im Thomasevangelium eine Distanz bzw. gar ein Bruch zu den jü dischen Wurzeln des frühen Christentums erkennen, welche(r) für ein frühes Zeugnis wie die Logienquelle kaum vorstellbar ist. Dass z. B. die kritischen Aussagen über die Identitätsmerkmale praktizierter jüdischer Religiosität in EvThom 6,1; 14 eine »in haltliche Nähe zur Verkündigung des historischen Jesus sowie eine Kohärenz zu den sonstigen kultkritischen Ausführungen Jesu« besitzen (75), ist nur vordergründig betrachtet richtig. Diese Aussagen stehen im Thomasevangelium nämlich in Beziehung zu Logien, die nicht mehr als das Zeugnis einer innerjüdischen Er neuerungsbewegung bzw. jüdisch-judenchristlicher Auseinandersetzungen verstanden werden können (vgl. vor allem die kate gorische Ablehnung der alttestamentlichen Prophetie als einer Deutungskategorie für die Botschaft Jesu [EvThom 52] und der Beschneidung [EvThom 53]). Auf Grund dessen herrscht in weiten Teilen der europäischen und vor allem deutschsprachigen Forschung eine begründete Skepsis gegenüber Rekonstruktionsversuchen früherer Textstadien des Thomasevangeliums, die auf dem Postulat einer gattungsgeschichtlichen Affinität zur Logienquelle und zu weiteren Dialogevangelien basieren.

Neben dieser methodischen Zugangsperspektive können auch die religionsgeschichtlichen Einschätzungen von N. kritisch hin terfragt werden. Dass z. B. die Logien des Thomasevangeliums zu einem wesentlichen Teil als eine frühjüdisch-weisheitliche Ausformung der Botschaft Jesu verstanden werden könnten, wird von N. ebenso wie in vielen entsprechenden Studien (z. B. von S. L. Davies; T. Zöckler etc.) mehr postuliert als erwiesen. N. tendiert vielmehr dazu, vordergründige Affinitäten zu neutestamentlichen Traditionsbildungen als Indizien einer frühen Entstehungszeit des Thomasevangeliums zu werten.

Dieser Sachverhalt kann exemplarisch an einem Detail erläutert werden, in welchem sich das theologische Profil des Thomasevangeliums markant von der neutestamentlichen Evan ge lien tradition unterscheidet, nämlich an den Beurteilungen der körperlichen und seelisch-geistigen Dimension menschlicher Exis tenz.

So wird z. B. konstatiert, dass die EvThom 18/19 zu Grunde liegende Vorstellung einer seelisch-geistigen Präexistenz der Jünger Jesu sich »im Rahmen altertümlicher protologischer Aussagen des frühen Juden- und Christentums mit weisheitlichem Charakter« bewege (94). Es wird jedoch nicht angemessen thematisiert, in welchem Verhältnis diese Züge des Thomasevangeliums zu den äußerst kritischen Beurteilungen der körperlichen Dimension menschlicher Existenz stehen (z. B. zu den nahezu parallel zueinander strukturierten Logien EvThom 56/80 bzw. EvThom 87/112). Diesbezüglich gelangt N. zu der Einschätzung, dass die Kontrastierung von Körper und Seele in EvThom 56/80 »nicht aus gnostischen Überlieferungen abzuleiten« ist, da sie »der frühchristlichen, insbesondere Š der joh. und pln. Überlieferung nahe[steht]« (300). Dies verkennt jedoch die Eigentümlichkeiten der jeweiligen Konzeptionen. Einerseits wird nicht zur Geltung gebracht, dass die paulinische Antithese von Geist und Fleisch vor allem in hamartiologische Argumentationszusammenhänge eingebettet ist, die wiederum für das Thomasevangelium keine Bedeutung haben. Andererseits läuft diese Kontrastierung in der paulinischen Theologie ebenso wie in den johanneischen Schriften nicht auf eine prinzipielle Diskreditierung der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz hinaus, wie dies z. B. in EvThom 87/112 der Fall ist. Und dass gerade diese Logien des Thomasevangeliums eine besondere Nähe zu gnostischen Traditionsbildungen aufweisen, wird von N. nur unzureichend zur Geltung gebracht.

Es kann somit festgehalten werden, dass das Verdienst des Kommentars von N. darin besteht, einen bestimmten Interpretationsansatz zum Thomasevangelium in einer informativen und leserfreundlichen Weise zu skizzieren und mit einzelnen speziellen Akzentsetzungen fortzuführen. Er kann aber nicht die in weiten Teilen der deutschsprachigen bzw. europäischen Forschung do minierende Einschätzung grundlegend in Frage stellen, dass es sich bei dem Thomasevangelium um eine gnostische Interpretation und Modifikation frühchristlicher Traditionsbestände bzw. eine ðJesusüberlieferung auf dem Weg zur GnosisÐ (so J. Schröter/H-G. Bethge) handelt.