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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1264–1266

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Titel/Untertitel:

Early Christian Reader. Christian texts from the first and second centuries in contemporary English translations in cluding the New Revised Standard Version of the New Testament. With Introductions and Annotations by St. Mason and T. Robinson.

Verlag:

Peabody: Hendrickson 2004. VII, 780 S. m. Tab. u. Ktn. gr.8°. Geb. £ 29,95. ISBN 1-56563-043-2.

Rezensent:

Michael Tilly

Der zu rezensierende umfangreiche Band enthält eine sowohl mit Einleitungen zu den einzelnen Textgruppen und Werken als auch mit ausführlich kommentierenden Fußnoten versehene Zusam menstellung frühchristlicher Texte aus dem 1. und 2. Jh. in englischer Übersetzung (zumeist der New Revised Standard Version Bible von 1989) in der Absicht »to help Š students read these documents in a new, historical light« (17). In ihrer Einleitung (1­19) betonen die Herausgeber, dass das Neue Testament als kanonische Sammlung frühchristlicher Schriften diese Texte allesamt in einen ahistorischen Kontext stelle, was ihre unvoreingenommene Lektüre erschwere und zudem nur einen partiellen Einblick in die umfangreichere literarische Produktion des frühen Christentums ermögliche. Zudem entspreche die traditionelle Abfolge dieser Schriften in den kirchlichen Sammlungen nicht ihren tatsächlichen Entstehungsdaten bzw. ihrer Herkunft. Um dagegen die hohe kulturelle Bedeutung des frühchristlichen Schrifttums möglichst weitgehend zu erfassen, seien die einzelnen Werke bzw. Werkgruppen nach ihrer Entstehungszeit und nach ihrer Autoren zu ordnen und auf dieser Basis ­ insbesondere hinsichtlich ihrer Berührungspunkte mit (bzw. Zugehörigkeit zu) literarischen Motiven und Gattungen im zeitgenössischen jüdischen und hellenistisch-paganen Schrifttum ­ zu analysieren.

In Entsprechung dieser programmatischen Zielsetzung enthält das 1. Kapitel (21­147) die sieben unbestrittenen paulinischen Briefe in der Abfolge 1Thess, 1Kor, Phil, Phlm, 2Kor, Gal, Röm. Ebenso wie in den folgenden Kapiteln thematisiert eine Einleitung zentrale Aspekte der gegenwärtigen exegetischen Diskussion um die jeweilige Textgruppe, hier insbesondere Form und Funktion des antiken Briefes, die Frage nach einer Entwicklung im paulinischen Denken, die (geringe) Bedeutung der Apg als Quelle für Leben und Lehre des Heidenapostels, der soziale Kontext seiner Verkündigung und das Problem eines »Zentrums« seiner Theologie. Die Fußnoten zu den einzelnen Texten, denen jeweils eine knappe Behandlung der relevanten Einleitungsfragen vorangeht und denen eine Liste der wichtigsten (ausschließlich englischsprachigen) Sekundärliteratur folgt, weisen auf Varianten im Text hin, thematisieren Übersetzungsprobleme, bieten relevante Informationen hinsichtlich des literarischen und kulturellen Kontextes, erklären wichtige Begriffe und problematische Stellen. Gekennzeichnet werden auch Übereinstimmungen und Abweichungen von Schriftzitaten gegen über dem masoretischem Text und der Septuaginta.

Im 2. Kapitel (149­208) finden sich die Paulus zugeschriebenen Briefe (2Thess, Kol, Eph, 1.2Tim, Tit). In der Einleitung wird besonders das Problem der Bedeutung und Bewertung der literarischen Pseudepigraphie behandelt; keine Erwähnung findet dabei die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Autorität einer christlichen Lehrergestalt durch ihren unmittelbaren Schülerkreis. Das kurze 3. Kapitel (211­239) enthält die mit dem Apostel Petrus verbundenen Schreiben (1Petr, Jud, 2Petr).

Den Hauptteil des Buches macht das umfangreiche 4. Kapitel (241­530) aus, das unter dem Titel »Biography, Anecdote, and History« die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas und das Thomasevangelium bietet. In der Einleitung werden die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten der synoptischen Frage diskutiert, wobei die Herausgeber die An nahme einer Markuspriorität für die plausibelste halten. Unsicher erscheint ihnen hingegen die Annahme, die Logienquelle Q sei nicht nur eine Bezeichnung der Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk, sondern ein hypothetisches Dokument (260). Zur Sprache kommen weiterhin die Fragen nach vorredaktionellen Erzählstoffen, nach dem historischen Jesus, nach den Leitlinien der literarischen Produktion der Evangelisten und nach der Gattung »Evangelium«. Das 5. Kapitel (531­622) enthält die Johannes zugeschriebenen Texte (Joh, 1.2.3Joh, Apk). Im 6. Kapitel (623­757) finden sich die restlichen neutestamentlichen Schriften sowie Schriften apostolischer Väter (Jak, Did, Barn, Hebr, 1Clem, Ign). Als Appendizes beigegeben sind Schaubilder (Währungen und Münzeinheiten, Stammbaum der Herodianer, Synopsen der Monate im gregorianischen und im jüdischen Kalender sowie der Datierungen der neutestamentlichen Schriften in der aktuellen Forschung, eine Zusammenstellung ihres literarischen Kontextes), ein exkursartiger Abschnitt über Gebrauch und Auslegung jüdischer hei liger Schriften im frühen Christentum (die rabbinische Traditionsliteratur wird in zutreffender Weise in ihrer zeitlichen und intentionalen Differenz wahrgenommen) und eine Aufstellung der Q zugewiesenen Passagen in Lk und Mt. Register der Na men, Orte oder Sachen fehlen.

Dem im Klappentext formulierten Anspruch, als »basic textbook for introductory courses in early Christianity« im Rahmen des angelsächsischen Hochschulsystems zu dienen, wird das Werk durchaus gerecht. Die Einleitungen und Fußnoten entsprechen zumeist dem Kenntnisstand der neueren neutestamentlichen Wissenschaft; Sondermeinungen werden durchweg ausgeblendet, philologische Spezialfragen nicht thematisiert.Einige Kritikpunkte betreffen Einzelfragen: Bloße Hinweise auf Übereinstimmungen neutestamentlicher Schriftzitate mit MT oder LXX (z. B. 141.223.293 u. ö.) sind von geringer Aussagekraft für den angesprochenen Leserkreis, der das komplexe Problem der verwickelten Texttraditionen und Übersetzungen der jüdischen Heiligen Schriften nicht zu überschauen vermag. Zwar erzielt die Umstellung der einzelnen Schriften interessante Verfremdungseffekte, doch ist die Anordnung zuweilen nicht nachvollziehbar (insbesondere Kapitel 5 und 6). In Kapitel 6 vermisst man Herm; in Appendix G (772) fehlt der Großteil des zeitgenössischen hellenistisch-jüdischen Schrifttums.

Wenn der Gebrauch des vorliegenden Lesebuches die strukturierte Lektüre umfangreicher Partien des frühchristlichen Schrifttums zu einem frühen Zeitpunkt des Theologiestudiums bedeutet, ist es nicht hoch genug zu loben. Wenn es jedoch als pars pro toto einer Tendenz verstanden werden muss, das universitäre Studium der Grunddokumente des christlichen Glaubens ohne fundamentale philologische und historische Kenntnisse zu gestalten, die für die eigene exegetische und theo logische Urteilsfindung schlechthin unverzichtbar sind, ist es für die Lehre untauglich.