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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1259 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Sivertsev, Alexei M.:

Titel/Untertitel:

Households, Sects, and the Origins of Rabbinic Judaism.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2005. VIII, 301 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 102. Lw. Euro 95,00. ISBN 90-04-14447-1.

Rezensent:

Catherine Hezser

Das Buch ist als Fortsetzung eines früheren Werks desselben Autors mit dem Titel Private Households and Public Politics in 3rd­5th century Palestine (Tübingen: Mohr Siebeck 2002) konzipiert. Es handelt sich hierbei um eine weitere Ausarbeitung seiner These, derzufolge die soziale Organisationsstruktur der Fa milie und des Haushalts in der Entwicklung des antiken Judentums eine wichtige Rolle spielte.

S. zufolge war der Haushalt die grundlegende Organisationsform des Judentums der Zeit des Zweiten Tempels. In Analogie zu den priesterlichen Familien entstanden die Sekten der Pharisäer, Sadduzäer und Essener als Familienverbände, die ihre eigenen Traditionen entwickelten und an spätere Generationen von Kindern und Enkeln weitervermittelten. Die Familie mit ihren privaten Traditionen, Praktiken und Ritualen stand in Zentrum des religiösen Denkens und Handelns. Diese Struktur entsprach den sozialen und kulturellen Konventionen traditioneller nah östlicher Gesellschaften (siehe ibid. 12) und ist in der Literatur der frühen nachexilischen Zeit (Esra, Nehemiah) sowie der hellenistischen Zeit (z. B. Tobit, Jubiläenbuch, 1/2 Makkabäer, Josephus) nachweisbar. Familienklans wie die Familie des Sanballat, des Onias, der Tobiaden, sowie die Makkabäer und Hasmonäer spielten eine führende Rolle im politischen und religiösen Geschehen (siehe ibd. 39). Der Gedanke vom »heiligen Samen« ließ die genealogische Reinheit der Familie große Wichtigkeit erlangen und führte zur Ablehnung von Mischehen. Sogar die endzeitliche Vergeltung wurde als Vergeltung der Sünden eines Klans verstanden: Die Familie war die Verkörperung von Moral oder Sünde, und die guten oder bösen Taten der Väter konnten an die Kinder vererbt werden (siehe ibd. 89).

In der herodianischen Zeit, als das jüdische Palästina zunehmend in die römische Provinzialstruktur integriert und urba nisiert wurde, kam es jedoch zum grundlegenden Wandel der religiösen Organisationsprinzipien und Sozialstrukturen. In Analogie zu hellenistischen Verbänden und Philosophenschulen bildeten sich nun jüdische Verbände gleichgesinnter Individuen heraus, die sich dem Torahstudium widmeten. Die Struktur des Schülerkreises wurde entscheidend, so dass Traditionen nicht mehr vom Vater auf den Sohn, sondern vom Lehrer an den Schüler vermittelt wurden. Dabei wurden die im Schülerkreis entwi ckelten und vermittelten Traditionen zunehmend abstrakter und beanspruchten universale Gültigkeit.

Durch die Rabbinisierung des Alltagslebens und die Entstehung einer auf die Familie bezogenen Halakhah (e. g., Reinheitsvorschriften, Ehe- und Scheidungsvorschriften) wurde der Haushalt zwar in das rabbinische Rechtssystem integriert, aber die Familie selbst wurde religiös neutral. Nicht die Familie, sondern der Torahgelehrte selbst sowie der die Torah studierende Schülerkreis wurden nun zum Locus des Heiligen. Diese graduelle Entwicklung von der Familie zum Schülerkreis und von der Familientradition zur Schultradition lässt sich, S. zufolge, sowohl bei der Gemeinde am Toten Meer (ibd. 95 ff.) als auch im frühen rabbinischen Judentum der tannaitischen Zeit nachverfolgen (ibd. 182 ff.). Dabei lässt sich ein genauer Zeitpunkt für den Wandel nicht festmachen, und es muss mit einer längeren Übergangsperiode bis in die frühe amoräische Zeit, in der Familienstrukturen (besonders in priesterlichen Familien) weiterhin wichtig blieben, gerechnet werden. Die Rabbinen bemühten sich, die »väterlichen Traditionen« in das neue, im Schülerkreis entwickelte Recht zu integrieren und es für breitere gesellschaftliche Kreise relevant zu machen (ibd. 274). Dabei zeigt sich, dass gerade die rabbinische Bewegung sich hellenistischen Strukturen am meisten angepasst hat, was als Folge der zunehmenden Provinzialisierung Palästinas zu verstehen ist (ibd. 273).

Insgesamt handelt es sich hierbei um eine wichtige, neue Forschungsansätze weiterführende Untersuchung, die die Bedeutung des Haushalts und der Familie für das antike Judentum herausstellt. Ob man allerdings einen chronologischen Wandel von der Familienorientiertheit des Judentums in nachexilischer und hellenistischer Zeit zum Schülerverbund in der späteren rabbinischen Zeit nachweisen kann, bleibt fraglich. Sieht man die sogenannten Sekten der Zeit des Zweiten Tempels als individuelle Familienverbände, bleibt offen, was die Sektenmitglieder denn zusammenhielt. Waren nicht auch die Pharisäer Individuen, die sich dem Torahstudium verschrieben hatten? Und hat nicht auch das hellenistische Judentum die hellenistische Kultur bereitwillig aufgenommen? Warum sollten dann erst die späteren Rabbinen sich hellenistischen Verbänden entsprechend organisiert haben?S. betont zu Recht, dass auch in rabbinischer Zeit Familien weiter einflussreich blieben. Sollte man dann nicht annehmen, dass sowohl in hellenistischer als auch in rabbinischer Zeit Netzwerke von Familienoberhäuptern gegründet wurden, die automatisch die hinter ihnen stehenden Familienmitglieder (inklusive Sklaven und Frauen) mit einbezogen? Überhaupt scheint der Unterschied zwischen Familien- und Schülerkreisen nicht sehr groß gewesen zu sein: Schüler, die bei ihren Lehrern lebten und ihnen dienten (shimush chakhamim), wurden ja in die Familien der Rabbinen aufgenommen und in vielerlei Hinsicht teilweise als Söhne und teilweise als Sklaven behandelt (siehe C. Hezser, Jewish Slavery in Antiquity, Oxford: Oxford University Press 2005, 174­78). Die rabbinische Lehre wurde in Schülerkreisen weitervermittelt, aber doch wohl in Diskussionen mit anderen Torahgelehrten entwickelt. Insofern ist nicht der Schülerkreis, sondern das Netzwerk gleichgesinnter Torahgelehrter als grundlegende Sozialstruktur des rabbinischen Judentums anzusehen.

Um die rabbinische Lehre von den »väterlichen Traditionen« zu unterscheiden, die angeblich privat, subjektiv und familiengebunden waren, charakterisiert S. die rabbinischen Traditionen wiederholt als »abstract legal principles and guidelines« (215), die unabhängig von Familienstrukturen entwickelt wurden. Dabei scheint es aber, dass S. bei seiner Fokussierung auf die Familie andere, gleichermaßen wichtige soziale Situationen, aus denen sich halakhische Lehren entwickelten (z. B. den Bereich der Arbeit), vernachlässigt hat. Man muss annehmen, dass das gesamte rabbinische Recht situationsbezogen (kasuistisch) war und abstrakte Prinzipien nur ansatzweise entwickelt wurden (siehe Leib Moscovitz, Talmudic Reasoning. From Casuistics to Conceptualization, Tübingen: Mohr Siebeck 2002).

Insgesamt ist dieses Buch allen Judaisten, Neutestamentlern, Althistorikern und Kirchengeschichtlern sehr zu empfehlen. Es liefert viele neue Diskussionsansätze, die zum besseren Verständnis des antiken Judentums beitragen können.