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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1256 f

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gross, Abraham:

Titel/Untertitel:

Struggling with Tradition. Reservations about Active Martyrdom in the Middle Ages.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2004. XIII, 132 S. gr.8° = The Brill Reference Library of Judaism, 19. Geb. Euro 55,00. ISBN 90-04-13853-6.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

A. Gross, Professor für mittelalterliche jüdische Geschichte in Beer Sheva, untersucht in der vorgelegten Studie die für christ liche Judenverfolgungen in Hoch- und Spätmittelalter vielfach dokumentierte Praxis eines »aktiven Martyriums«, der Selbsttötung und der damit oft verbundenen vorausgehenden Tötung von Familienangehörigen, durch die sich Juden einer Annahme der Taufe unter Folter entzogen. Das 1. Kapitel behandelt den frühesten historisch verbürgten Fall von aktivem Martyrium in Deutschland, die Familiensuizide in Mainz während der Kreuzzugspogrome von 1096. Das 2. Kapitel verfolgt die weitere Ge schichte des aktiven Martyriums im aschkenasischen Raum, die erst im 15. Jh. ausläuft, und beleuchtet die sich parallel entwi ckelnde halachische Diskussion, deren Spektrum von vorbehaltloser Zustimmung (Rabbenu Tam, 12. Jh.) über verhaltene Duldung (Meir v. Rothenburg, 13. Jh.) und seelsorgerlichen Umgang mit den Schuldgefühlen Überlebender (Schalom v. Neustadt, 14./15. Jh., Wien) bis zu begründeter Ablehnung (Salomo Luria, 16. Jh., Polen) reicht. Das 3. Kapitel widmet sich der Geschichte des aktiven Martyriums im christlichen Iberien von den Anfängen in der Spätphase der Reconquista bis zur Eskalation in Portugal 1497.

G. legt überzeugend dar, dass die geistige Elite das aktive Martyrium gegenüber dem passiven Foltertod meist nur als zweitbeste Lösung betrachtete. Die Traditionen, mit denen es sich rechtfertigen ließ, waren schmal: Der talmudische Märtyrer Chananja b. Teradjon hatte es abgelehnt, seine Feuerqualen durch Einatmen des Rauchs zu beenden (bAZ 18a). Einen Präzedenzfall für legitimen Suizid lieferte immerhin die biblische Erzählung von König Saul, und aus der Legende von 400 Kindern, die sich ins Meer stürzten, um der Schande zu entgehen (bGit 57b), ließ sich eine Begründung für die Tötung unmündiger Familienangehöriger gewinnen. Im Hintergrund war ferner die hebräische Josephus-Adaption des Sefer Josifon wirksam, durch die das Schicksal der Verteidiger Massadas einem breiten jüdischen Publikum bekannt geworden war. Starken Druck übte zudem auch die Faktizität der Ereignisse aus; denn war es erst einmal zu Fällen von aktivem Martyrium gekommen, ließen sich Legitimität und sittlicher Wert des Handelns der Opfer nicht gut nachträglich in Zweifel ziehen. In diesem Sinne hatte das Vorbild des aschkenasischen Judentums, so G. in Auseinandersetzung mit R. Ben-Shalom, entscheidende Bedeutung auch für die Entwicklung im sefardischen Raum. Was schließlich das Aufhören von Familiensuiziden in der frühen Neuzeit angeht, so vermutet G. einen Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Aufkommen eines spezifisch neuzeitlichen Verständnisses von Kindheit.

Auf Informationen zum historischen Hintergrund und zur Quellenlage verzichtet das Buch weitgehend, so dass es sich als Einführung in die Thematik kaum eignet; erreicht wird da durch aber eine Konzentration auf das Wesentliche, die es vorzüglich lesbar macht.