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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1248–1250

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cyranka, Daniel:

Titel/Untertitel:

Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2005. 522 S. gr.8° = Kirche ­ Konfession ­ Religion, 49. Geb. Euro 62,00. ISBN 3-89971-198-X.

Rezensent:

Werner Thiede

Dass man sich im abendländischen Diskurs über Seelenwanderung bzw. Reinkarnation allenthalben gern auf die einschlägigen Äußerungen G. E. Lessings am Ende seiner Erziehungsschrift bezieht, und zwar insbesondere dort, wo diese Vorstellung in irgendeiner Variante propagiert wird, ist gewiss nichts Neues. Eine Forschungsarbeit, die derlei Rückbezüge sammelt, sondiert und an den Originaltexten Lessings misst, sollte nach Möglichkeit über den Charakter einer bloßen Fleißarbeit hinauskommen, indem sie wirklich neue Resultate präsentiert. Dieses Bemühen ist dem Vf. mit seiner in Halle angefertigten Dissertation abzuspüren, denn sein Ergebnis lässt tatsächlich aufhorchen: Es sei unmöglich, Lessing historisch »als Vertreter einer Reinkarnationsidee zu bezeichnen« (465). Man dürfe ihn weder »zu einem Vorläufer« noch »gar zu einem Vertreter eines Seelenwanderungs- oder Reinkarnationsgedankens machen« (459). Haben sich also all die vom Vf. der Reihe nach aufgerufenen philosophischen, theologischen und esoterischen Autoren seit über 200 Jahren in Lessing getäuscht bzw. von ihm täuschen lassen? Oder sieht der Vf. am Ende den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr?

Für Letzteres spricht, dass der Vf. sich bei näherem Hinsehen selbst widerlegt. Beispielsweise weiß er durchaus um Lessings »Seelenwanderungsaussagen als solche« (466), die sich ja keineswegs dadurch von selbst erledigen, dass sie ­ wie längst allgemein vor Augen ist und die Arbeiten von Rüdiger Sachau (»Westliche Reinkarnationsvorstellungen«, 1996) und Helmut Zander (»Geschichte der Seelenwanderung in Europa«, 1999) eindrücklich gezeigt haben, ja, der Vf. aufs Neue betont ­ in den Rahmen des abendländischen Fortschritts- und Evolutionsparadigmas gehören. Namentlich im Zuge der detaillierten Textanalyse zur Erziehungsschrift kann der Vf. nicht umhin einzuräumen, dass man es bei Lessing »mit einer vernünftigen Seelenwanderungsvorstellung« zu tun hat, die freilich »von den Seelenwanderungsvorstellungen der ältesten Religionsgeschichte abzusetzen« ist (380). Ja, er weiß näherhin zu zeigen, dass Lessing sich »nicht an der exoterischen, moralischen, sondern an der religions- bzw. philosophiegeschichtlich jüngeren esoterischen Seelenwanderungsvorstellung orientiert« (391). Hierzu passt die Schlussthese, ein »Seelenwanderungsvertreter Lessing« sei ein bloßes Konstrukt (459.465), mitnichten. Widerlegt wird sie zudem durch das Zeugnis seines Bruders Karl: »In den letzten Jahren seines Lebens war auch eine seiner Lieblingsideen die Seelenwanderung.« Aus dem Nachlass brachte Karl Lessing etwa den Satz bei: »Ist es denn schon ausgemacht, daß meine Seele nur einmal Mensch ist?« (Zitat, 148)

Die Begründung des Vf.s für sein Negativresultat ist denn auch brüchig. Er argumentiert, es hätten sich, um Lessing als Vertreter einer Reinkarnationsvorstellung missverstehen zu können, zwei unterschiedliche Diskurszusammenhänge vermischt. Auf der einen Seite sei da die Erziehungsschrift von 1780, die eben keinen Beitrag zur damaligen Seelenwanderungdiskussion dargestellt habe (ob sie das in ihren Schlussthesen nicht zumindest indirekt doch auch sein wollte, bleibt m. E. sehr wohl weiter zu fragen, insbesondere mit Blick auf den bei Zander ausführlicher analysierten Denker Franciscus Mercurius van Helmont, dessen Lektüre Lessing geholfen hatte, den Tod seines kleinen Sohnes und seiner Frau zu verarbeiten, und mit dem er die Zielvorstellung einer menschlicherseits zu bewerkstelligenden Vervollkommnung teilte). Und auf der anderen Seite habe Lessing überhaupt nur in anderen Zusammenhängen, vor allem im »Fragment über die Sinne«, im naturphilosophischen Sinn an einem Seelenbegriff Interesse gezeigt, hier nun aber »Seelenwanderung« verstanden als ein Wandern in höheren, jenseitigen Sphären oder auf anderen Sternen, nicht aber als Rückkehr auf die Erde. Dass diese beiden Komplexe nicht miteinander vermengt werden sollten (458), ist zwar richtig ­ ganz abgesehen davon, dass die entsprechenden Vorstellungen bereits vor und dann auch nach Lessing sehr wohl weltanschaulich vermengt worden sind, so dass eine solche Vermengung für Lessing nicht einmal hundertprozentig ausgeschlossen werden kann. Aber worauf sich die allermeisten, die später für ihren Reinkarnationsglauben als Autoritätsbeweis Lessing zitieren, berufen, das sind ja doch die einschlägigen, zu seinen Lebzeiten publizierten Schlussparagraphen der Erziehungsschrift mit ihren »Seelenwanderungsaussagen als solchen«, ob diese nun einen Diskussionsbeitrag zur damaligen Debatte leisten wollten oder nicht. Und hier ist, wenngleich nicht begrifflich, so der Sache nach doch unmissverständlich von »Seelenwanderung« in jenem Sinn die Rede, der sich weithin durchgesetzt hat, nämlich in dem der »wiederholten Erdenleben«, wie es im anthroposophischen Jargon heißt.

Korrekt ist ­ und wer hätte dem je widersprochen? ­, dass Lessing keine ganz bestimmten Hypothesenformen zum Seelenwanderungsglauben direkt angeregt hat (466). Ein weiteres Ergebnis lautet: »Die Bedeutung und der Stellenwert von Lessings Äußerungen zur Seelenwanderung werden im Rahmen der Lessing-Forschung sehr unterschiedlich eingeschätzt« (188). Dass sich mit dem Terminus »Reinkarnation« allenthalben Verschiedenstes verbindet, wird kritisch bemerkt (189), schließlich aber festgehalten, dass er sich in der neueren Debatte durchgesetzt habe (466). Mit der Frage, ob er angesichts seiner disparaten Bezüge als (ver)einheitlich(end)er Begriff haltbar sei, unterschätzt der Vf. m. E. den verbindenden Gehalt in dem Ausdruck »Reinkarnation«, dessen wörtliche Bedeutung »Wiederfleischwerdung« das allen Vorstellungsvarianten gemeinsame (und der christlichen Eschatologie fremde) Element klar benennt.

Aufgebaut ist die Untersuchung so, dass vor der im zweiten Teil vorgenommenen, gelungenen kontextuellen Analyse von Lessings Texten zur Seelenwanderung (ja, es gibt sie!) zunächst ein Eingangsteil von rund 200 Seiten breit aufzeigt, wie Lessing im Seelenwanderungs- und Reinkarnationsdiskurs bis in die Gegenwart hinein vorkommt. Hierbei wird unter anderem deutlich, dass die Lessing-Forschung »bis heute kaum oder gar nicht auf die Tatsache eingegangen [ist], dass Gotthold Ephraim Lessings Name im westlichen Reinkarnationsdiskurs eine herausragende Stellung hat« (191); vielmehr würden in der Lessing-Forschung die Seelenwanderungsaussagen der Erziehungsschrift in der Regel als Funktion der Theodizee-Problematik aufgefasst. Der dritte Teil bietet schließlich die »Auswertung« der fleißigen Studien und beschränkt sich mit seinen, wie gesagt, zum Teil überraschenden Aussagen auf elf Seiten. Ein umfangreicher Anhang enthält u. a. ein Personenregister.