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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1245–1248

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Baer, Harald, Gasper, Hans, Müller, Joachim, u. Johannes Sinabell [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus.

Verlag:

Hrsg. unter Mitwirkung v. Th. Becker, W. Höbsch u. M. Sellmann. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. XII, 1474 S. gr.8°. Geb. Euro 39,90. ISBN 3-451-28256-9.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Der Begriff Sekte ist über lange Zeit in der theologischen Rede als Klassifizierung verwendet worden. Dies hat sich in den letzten vor allem zwei bis drei Jahrzehnten entscheidend verändert. Vor dem Hintergrund veränderter religiöser Landschaften, der veränderten religiös-kirchlichen Situation in Deutschland ist der Ausdruck »Sekte« in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß in die Alltagssprache vor allem der Medien eingewandert und hat dadurch an Trennschärfe, vielleicht gar an grundsätzlichem Sinn verloren, zumindest jedoch seine Bedeutung verändert. In besonderer Weise lässt sich diese Entwicklung an Handbüchern und Lexika nachvollziehen. Neben dem bereits in fünfter Auflage erschienenen »Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen« (hrsg. von der VELKD) und dem von der EZW nun in zweiter Auflage vorgelegten »Panorama der neuen Religiosität« liegt seit 1990 das »Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen« vor, das bereits 1994 in einer 5. Auflage auch als Taschenbuch erschien. Anhand dieser verlegerischen Entwicklungen lässt sich unschwer der Bedarf an In formationen auf diesem Feld ablesen.

Insgesamt 195 Autoren vor allem aus Deutschland und Österreich wie auch aus der Schweiz und aus Italien haben Artikel für die neue Auflage des Lexikons verfasst. Dabei sind 57 selbständige Artikel der ersten Auflagen weggefallen und 48 neue Artikeleinträge aufgenommen worden. Neben dem Wegfallen von Artikeln über einzelne Gruppen und Vereinigungen (z. B. »Aktionsanalytische Organisation«, »Divine Light Mission«, »Seicho-no Ie«) werden neue Bewegungen und Einzelpersonen (z. B. »Charismatische Bewegung«, »Holic«, »Sri Sri Ravi Shankar«) vorgestellt. Auch zentrale Begriffe bzw. Diskursfelder haben sich verändert. So werden keine selbständigen Artikel mehr zu Stichworten wie »Heilung«, »Hoffnung« und »Liebe«, dafür aber Überlegungen zu »Erlebnisreligiosität«, »Gesundheit«, »Psychoszene« mitgeteilt. Ein neuer Akzent findet sich auch in der vermehrten Beachtung religionswissenschaftlicher Aspekte (»Religionsgemeinschaften«, »Religionssoziologie«, »Re ligionswissenschaft«). Dies schlägt sich auch in eigenen Ar tikeln über Buddhismus, Hinduismus und Islam im Westen sowie über »Islamismus« nieder.

Der berufliche Hintergrund der Autoren reicht vom akademisch-universitären Rahmen über die Gemeindepraxis bis zu kirchlicher und anderer Beratungsarbeit. In diesem Feld lässt sich auch die Zielgruppe des Lexikons sehen. Es vermittelt wissenschaftlich fundierte, praxisrelevante Auskünfte zur religiösen Situation vor allem im deutschsprachigen Raum und steht da mit in einem näher zu definierenden Verhältnis zur jüngeren sogenannten Sektendebatte.

Signifikant für die Veränderung in dieser Debatte ist bereits die neue Titelformulierung des Lexikons. Die ersten von Hans Gasper, Joachim Müller und Friederike Valentin herausgegebenen Auflagen erschienen unter dem Titel »Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen. Fakten, Hintergründe, Klärungen«. Die hier zu besprechende neue Auflage des Buches trägt nunmehr den Titel »Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus«. Der Sektenbegriff wie auch die Bezeichnung »Son dergruppen« sind aus dem Titel verschwunden. »Fakten, Hin tergründe, Klärungen« erscheinen in der neuen Auflage als »Orientierungen im religiösen Pluralismus«. Das ist von entscheidender Bedeutung für die heutige Charakterisierung des Feldes, in das hinein dieses Lexikon wirkt. Die Wirkung selbst ist nicht zu unterschätzen. Denn dass das Thema »Sekten« in den vergangenen Jahren eine so große Bedeutung hatte, lag nicht ausschließlich an diversen religiösen Gruppen und Ge meinschaften und ihrer öffentlichen Wahrnehmung, sondern nicht zuletzt auch an den Fachleuten, Wissenschaftlern und Beratern aus der Praxis, die sich unter diesem Stichwort mit entsprechenden Phänomenen öffentlich beschäftigten.

Einen vorläufigen Höhe- und vielleicht auch Endpunkt bildete wohl der Abschlussbericht der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages zum Thema »Sogenannte Sekten und Psychogruppen«. Die Vermeidung des Ausdrucks »Sekte« wird von den Herausgebern des Lexikons eigens thematisiert und schlägt sich auch in den entsprechenden Artikeln nieder.

So heißt es z. B. unter dem Eintrag »Sekte«, der Begriff habe »durch konflikthafte Auseinandersetzungen und die vielfache Ablehnung von Kirche und Staat (bzw. Gesellschaft) durch Sekten eine negative Prägung« erhalten. »Vor allem durch die sog. ðJugendreligionenÐ wurde der Begriff stark belastet und zugleich durch das Entstehen neuer Esoterik- und Psychogruppen erweitert. Deshalb wird auch dafür plädiert, den Begriff ðSekteÐ durch das emotional weniger aufgeladene und inhaltlich weiter gefasste Wort ðreligiöse SondergemeinschaftÐ, ðneue religiöse bzw. neureligiöse BewegungÐ u. a. zu ersetzen.« (1189 f.) Ein entsprechender Eintrag »Sondergemeinschaft« findet sich allerdings nicht und der Eintrag »Neureligionen, weltweit« problematisiert als Erstes den Begriff selbst, denn bei genauerem Hinsehen handele es sich eigentlich »um Phänomene religiösen Wandels, wie es sie schon immer in allen Teilen der Welt gegeben hat« (885). Der Ausdruck »Szene« fehlt völlig. Der Artikel »Weltanschauung« verweist auf die genuin deutsche Begriffsgeschichte und bietet eine Vielzahl heutiger Erscheinungsformen an, die bei näherer Betrachtung sämtlich auf dem religiösen Feld agieren, in der Regel jedoch ohne selbst als religiös oder gar als Religion gelten zu wollen. Das Stichwort »Pluralismus« findet sich ­ im Unterschied zur früheren Auflage ­ nur in einem Artikel zur pluralistischen Religionstheologie vor allem John Hicks. Diese Perspektive bietet weniger die religionswissenschaftliche und theologische Wahrnehmung der Pluralität als solcher, sondern vielmehr die theologischen Optionen zum Umgang mit Pluralität als Problem. Hier wäre ein Blick in andere Diskurse (nicht oder nicht nur auf religiöse Phänomene bezogene) wünschenswert. Auf diese Weise könnten verschiedene Ansätze in den Blick genommen werden und eine Handhabe z. B. für das Thema »Religion und Kultur« anbieten. Auch eine Unterscheidung zwischen Pluralität und Pluralismus wäre hilfreich. Das Lexikon selbst bietet nämlich eine umfangreiche Wahrnehmung und Informationen über die faktisch vorhandene Pluralität, nicht aber ein explizites Konzept von Pluralismus. Das ist für die Wahrnehmung des pluralen religiösen Feldes von Vorteil, insofern es hier offenbar um Religion und um Kultur geht (vgl. etwa die Bemerkungen zu den neu in das Lexikon aufgenommenen Artikeln zu Geistlichen Bewegungen und zu Orthodoxen Kirchen, VIII). Ein Pluralismuskonzept wie die pluralistische Religionstheologie, die hier diskutiert wird, steht immer in Nachbarschaft oder gar Konkurrenz zu anderen Konzeptionen für den Umgang mit Pluralität, die z. B. kulturtheoretisch oder politologisch argumentieren. Die religiöse Vielfalt lässt sich von diesen Feldern nicht ohne Weiteres abgrenzen. Nicht nur die im Lexikon beschriebenen einzelnen Formen sind religionswissenschaftlich und theologisch von Relevanz, sondern vor allem ihre Vielfalt als solche schon im deutschsprachigen Raum.

Wie verhält sich der im Artikel vorgestellte Religionsbegriff zu den im Lexikon selbst in großer Vielfalt vorgeführten Phänomenen? Diese Frage ist sicherlich ausschließlich für die wissenschaftlichen Fachdiskurse bestimmt, sollte bei einem an Be griffen orientierten Zugriff aber mindestens im Hintergrund stehen. Insofern bezeichnet dieses Desiderat nicht vordergründig einen Mangel, sondern weist auf die spezielle Schnittmenge bzw. Perspektive hin, die dieses Lexikon nicht nur für den Ge brauch in der Praxis, sondern auch als wissenschaftliches Findmittel empfiehlt. Es ist eben genau die religiöse Situation im deutschsprachigen Raum, die hier in den Blick genommen wird. Während die akademische Theologie sich nur in Ausnahmefällen mit derzeitiger Religion außerhalb verfasster Kirchlichkeit beschäftigt ­ dies gilt unbeschadet neuerer praktisch-theologischer Ansätze, die in der Regel nicht mit den religionswissenschaftlichen Debatten verknüpft sind ­, stoßen Teile der akademischen Religionswissenschaft erst seit wenigen Jahren auf das Thema »lokale Religionsforschung«. Hier leistet das Lexikon nach wie vor Pionierarbeit und beschäftigt sich auch mit denjenigen Phänomenen, die vor allem in den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit unter dem Begriff »Sekte« kontrovers diskutiert wurden.

Im Vorwort beschreiben die Herausgeber ausführlich die seit 1990 veränderte Situation und umreißen die Diskussion um den Begriff »Sekte«, der hier nunmehr vermieden wird. Als Kriterium gilt dabei weder eine theologische oder religionswissenschaftliche Begründung, sondern die eher diffuse öffentliche Wahrnehmung, die sich an sogenannter Konfliktverursachung durch diverse Gruppen und Gemeinschaften orientiert. Hier wird mit der Begriffswahl auf die derzeitige Situation reagiert, was die Zielgruppe des Werkes deutlich im Blick behält. Es geht den Herausgebern letztlich darum, aus christlicher Perspektive im religiösen Pluralismus »auskunftsfähig zu sein« (VIII): »Faire Information über ðdie anderenÐ verbindet sich mit dem, was christlicher Glaube und was Christen zu sagen haben.« (Ebd.) Gleichwohl gibt es neu aufgenommene Artikel zu den Geistlichen Bewegungen und zu Orthodoxen Kirchen, was der »Intention einer umfassenden Information über eine religiös und kirchlich pluraler gewordene[n] Umwelt entspricht« (ebd.), jedoch weder theologisch noch religionswissenschaftlich »die anderen« beschreibt.

An all dem lässt sich ablesen, dass es offenbar nach wie vor schwierig ist, den Begriff »Religion« bzw. »religiös« auf die in großer Vielfalt, teilweise großer Intensität beschriebenen Phänomene anzuwenden. Dies mag mit der spezifisch deutschen Situation sowohl im Hinblick auf das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft als auch im Hinblick auf verschiedene theologische Verwendungen des Religionsbegriffes zusam menhängen. Insgesamt scheint es nach wie vor darum zu gehen, »den Religionsbegriff reinzuhalten« (Marco Frenschkowski) und grundsätzlich für positiv zu bewertende oder wenigstens positiv konnotierte Phänomene zu reservieren. Insofern ist das nun neu vorgelegte Lexikon nicht nur ein hervorragender Hinweis auf diverse Phänomene und ihre Hintergründe, sondern gleichzeitig auch ein Indikator für den metasprachlichen Um gang mit diesen Phänomenen, der auf dem Feld des Religiösen in der wissenschaftlichen wie in der öffentlichen Debatte offenbar eine Wertneutralität grundsätzlich nicht zulässt.

Der wissenschaftliche Wert besteht vor allem in der Aufnahme von Phänomenen und Aspekten, die bislang in der religionswissenschaftlichen Forschung unterbelichtet sind. Dies erklärt sich durch den Praxishintergrund des Werkes und macht es zu einem wichtigen Element in der Beschäftigung mit und Debatte über die plurale religiöse Landschaft. Es genügt seinem Anspruch nach Orientierung in dieser Pluralität aus einer christl ichen Perspektive, ist aber sicher kein Beitrag zum Pluralismus im engeren Sinne, der als konzeptionell strukturierter Umgang mit Pluralität von eben dieser Vielfalt selbst zu unterscheiden ist. Vielmehr zeigt der Bedarf an derartigen Spezialhandbüchern deutlich, dass von Pluralismus als konzeptionalisiertem Umgang mit Pluralität zumindest in Deutschland derzeit keine Rede sein kann.