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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1217–1219

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lammer, Kerstin:

Titel/Untertitel:

Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung.

Verlag:

M. e. Geleitwort v. Y. Spiegel. 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. 287 S. m. Abb. 8°. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-7887-2019-0.

Rezensent:

Hans-Martin Gutmann

Kerstin Lammer ist mit ihrer Dissertationsschrift der nicht gerade häufige Fall gelungen, dass eine Prüfungsarbeit zu einem profunden, für die praktische Arbeit hilfreichen und von vornherein viel beachteten Buch geraten ist. Die Perspektiven dieses Buches sind ebenso konzentriert wie vielschichtig. Die zentrale These von L. ist, dass bisherige Seelsorge-Modelle in der Begleitung von Trauernden in einem entscheidenden Punkt zu kurz greifen. Die Situation des unmittelbaren Abschiednehmens bei einem Trauerfall wird in viel rezipierten Stadienmodellen der Trauerarbeit als »Schockphase« wahrgenommen, damit zugleich aus dem Gegenstandsbereich seelsorgerlicher Begleitung ausgeschlossen. L. kann zeigen, dass gerade in diesen frühen Situationen der Trauer entscheidende Weichenstellungen für die weiteren Chancen der Trauerarbeit gestellt werden. Das von ihr vorgeschlagene Stichwort »perimortale Trauerbegleitung« deutet die Perspektiven für eine Neuorientierung der Seelsorge im Trauerfall an. Mit Hilfe der im Angelsächsischen unterschiedlichen Begriffe für das deutsche Wort »Trauer«, nämlich »mourning« und »grief« kann L. zeigen, dass sich das kirchliche Angebot, das sich in der Regel auf die Gestaltung und Vorbereitung von Bestattungsgottesdiensten konzentriert, zu stark auf die äußerliche, öffentlich wahrnehmbare Gestalt des Trauerfalles (mourning) konzentriert. Die subjektiven, emotionalen Erfahrungen der Trauer (grief) sind in der unmittelbaren Situation von Verlust und Abschied in der Regel am drängendsten. Gerade hier kann und soll seelsorgerliche Begleitung ihren Ort finden. Deswegen ist in der Perspektive L.s der zentrale Ort kirchlicher Trauerbegleitung nicht zuerst und nicht allein die Bestattung, sondern die Krankenhausseelsorge.

Das Buch enthält eine Fülle von Wahrnehmungen, empirischen Daten und Reflexionen zur Veränderung von Sterben, Tod und Trauer in der spätmodernen Gesellschaft Deutschlands, aber auch zu den Möglichkeiten und Grenzen kirchlicher Arbeit in diesem Feld. L. zeichnet die Prozesse noch einmal nach, die in verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen, aber auch in den Feuilletons von Massenmedien und selbst in populärkulturellen Werken mittlerweile weit verbreitet sind: Sterben und Trauer sind heute Widerfahrnisse, die nicht durch soziale Lebenswelten und vertraute rituelle Begehungsmöglichkeiten gesichert sind, sondern weitgehend individualisiert sind. Auch die Kirche ist mit ihren Trauerangeboten in diesen Prozess einbezogen. L. kann einleuchtend zeigen, dass auch kirchliche Bestattungsgottesdienste heute keinesfalls mehr fraglos gesucht werden und sich gegenüber alternativen Angeboten, z. B. durch Kompaktangebote von Bestattungsinstituten, bewähren müssen.

In ihrem zentralen Teil, der auch den größten Umfang einnimmt, ist diese Untersuchung geradezu zu einem Handbuch der Trauerforschung geworden. Es werden ­ durchweg prägnant und konzentriert ­ die verschiedensten außertheologischen Theoriemodelle zum Verständnis von Trauer und Verlust vorgestellt. Von der Psychoanalyse zur Ethnologie, von Behaviourismus zum Soziobiologismus, von der Kognitionspsychologie bis hin zu phänomenologischen Zugängen werden die verschiedensten Wahrnehmungseinstellungen und Reflexionsmodelle zur Trauer vorgestellt und aufeinander bezogen. Ein zentrales Ergebnis dieser umfassenden Darstellung ist, dass nicht die weit verbreiteten und gerade auch im kirchlichen Kontext stark rezipierten Phasenmodelle einer Trauerentwicklung für Wahrnehmung, Verständnis und Praxis hilfreich sind, sondern ein »Aufgabenmodell der Trauerbegleitung«. L. entfaltet in diesem Zusammenhang ein aufschlussreiches Profil für die Praxis der Trauerbegleitung, das Aufgaben, professionelle Voraussetzungen und flankierende Maßnahmen beinhaltet. Als Aufgaben werden benannt: 1. Den Tod realisieren helfen; 2. den Verlust validieren; 3. Trauerreaktionen auslösen helfen; 4. die Lebens- und Beziehungsgeschichte von Verstorbenen und Hinterbliebenen rekonstruieren helfen; 5. den Abschied gestalten helfen und zur Hinwendung zum Leben ermutigen; 6. Bewältigungsressourcen und Risikofaktoren evaluieren. Professionelle Voraussetzungen schließen vor allen Dingen die Klärung von Wahrnehmungseinstellungen bei den Seelsorgerinnen und Seelsorgern, aber auch von Erwartungsmustern, eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber den Phänomenen der Trauer ein. Wichtig erscheint auch, dass unter dem Stichwort »flankierende Maßnahmen« die soziale Umwelt der Trauernden in die Wahrnehmung und Begleitung mit einbezogen werden.

In einem dritten Teil entwickelt L. ein praxisorientiertes Modell für die perimortale Trauerbegleitung am Beispiel der Krankenhausseelsorge. In diesem Abschnitt werden die einzelnen Dimensionen des »Aufgabenmodells« der Trauerbegleitung konkretisiert und in Haltungen und Handlungsperspektiven der Seelsorgenden übersetzt. Die hier entwickelten Überlegungen sind keinesfalls technischer Natur, entfalten ihre Brisanz vielmehr im Kontext einer theologischen Reflexion, die christologisch und rechtfertigungstheologisch konzentriert wird. Im Zentrum steht eine annehmende, wertschätzende Haltung des Seelsorgenden, die jede Wahrnehmung begleitet und ihr vorausgeht. Die hier vorgeschlagenen »pastoralen Kernkompetenzen in der Trauerbegleitung« ­ genannt werden eine poimenisch-hermeneutische, eine systematisch-theologische und eine liturgisch-rituelle Kompetenz­ werden so vorgestellt, dass existenzielle anthropologische Erfahrungen mit zentralen theologischen Einsichten vermittelt werden. »Im Sinne christlicher Theologie stellen therapeutische, d. h. heilsame Effekte einen Vorschein des kommenden Heils bzw. einen Abglanz des Heils- und Erlösungswillen Gottes dar, auf den ChristInnen hoffen« (237). »Aus den Gedanken der Erlösung und der Rechtfertigung ergeben sich für (protestantische) ChristInnen im Angesicht des Todes zwei Konsequenzen. Die erste: Christinnen und Christen sind zur Annahme des Sterbens und des Leidens daran befähigt, weil für sie die Einsamkeit im Sterben und Leiden aufgehoben ist. Das Bild des Gekreuzigten zeigt: Sterben, Leiden, auch der Schmerz der Trauer sind unser aller gemeinsames geschöpfliches Schicksal, und gerade darin hat uns Gott nicht verlassen, sondern sich uns im tiefsten zugewandt ... (Und die zweite Konsequenz:) Der christliche Maßstab von Gelingen oder Scheitern eines Lebens ist nicht, was jemand an gesellschaftlichen Zielen wie Status, Vermögen, Leistung und Erfolg, Wirkungs- und Bekanntheitsgrad etc. erreicht, sondern inwieweit er oder sie die essentielle Bestimmung der Menschen zu Bezogenheit, Hingabe, Selbstüberschreitung in Richtung auf ein Gegenüber verwirklicht hat.« Hier auch Scheitern und Versagen wahrnehmen zu können, befreit Christinnen und Christen dazu, »das gelten zu lassen, was an Gutem, an Liebe, Bezogenheit und Hingabe möglich und wirklich war, sich mit dem zu versöhnen, was ungelebt blieb, und zu vergeben, was schuldig geblieben wurde« (251).

Insgesamt ist hier ein außerordentlich gehaltvolles, in anthropologischen wie theologischen Reflexionen konturiertes, umfassendes und konzentriertes ­ und vor allem auch: ein lesbares und praxisrelevantes Buch gelungen. Ein Werk mithin, das ich mir auf jeden Schreibtisch von Menschen wünsche, die als Haupt- oder Ehrenamtliche in der Begleitung von Trauernden tätig sind.