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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1222 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thiele, Michael:

Titel/Untertitel:

Geistliche Beredsamkeit. Reflexionen zur Predigtkunst.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 320 S. gr.8°. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-018352-4.

Rezensent:

Michael Heymel

Er habe ein homiletisch-rhetorisches Werk geschrieben, weil es ihm Spaß mache, bekennt Michael Thiele, um gleich hinzuzufügen: »der persönliche Spaß an der Sache wird vielleicht zur Begründung letztlich doch nicht hinreichen« (36). In der Tat darf von einem Predigtlehrbuch mehr erwartet werden. Th., der an der Technischen Hochschule Karlsruhe und an der Universität Frankfurt a. Main Rhetorik lehrt, hat denn auch ein seriöses Anliegen: Er will die jetzt ausgeübte gängige Predigtpraxis analysieren. Dabei fasst er die Predigt im Schnittfeld von Rhetorik und Homiletik als Rede von Gott und seinem Verhältnis zum Menschen (41). Sein Buch bietet »Teile einer Werklehre im Sinne einer Praxistheorie« (43), die sich auf die vielgestaltige individuelle Predigtproduktivität bezieht. Der Titel »Geistliche Beredsamkeit« ist der Homiletik der Aufklärung entliehen. Er verweist darauf, dass es hier um Regeln der praktischen Vernunft für die Kunst des Predigens geht, die Th. auch unter dem Titel »Religiöse Rhetorik« als Kunst religiöser Rede und Mitteilung begreift.

Dieses Predigtlehrbuch will, ausgehend vom Ansatz der spekulativen Rhetorik des frühen 19. Jh.s, rhetorische, sprach- und sprechwissenschaftliche, empirische, philosophische und poetische Zugänge zur Predigt eröffnen. Es reflektiert nicht nur Predigtpraxis, sondern will auch Vorschläge für eine überzeugende Predigtarbeit machen. Dem Modell einer Theologie als »Spurensuche« (11 ff.) entspricht, dass die elf Kapitel des Buches jeweils in lockerer Essayform homiletische Phänomene umkreisen, wobei Thematik und Reihenfolge sich einmal dem jeweiligen Interesse und Fokus des »reflexiven Ich« (11) Th.s, zum anderen einem prinzipiellen »Pluralismus der Methoden, der Meinungen, der Predigten« (63) verdanken.

Zum Inhalt: I. Vorspiel (exponiert die Predigt als Kunst individueller Mitteilung und Darstellung in Geselligkeit), II. Aufstand der Praxis (erörtert Herausforderungen heutiger Predigtpraxis), III. Lobreden (würdigen Sprachformen der Predigt: Erzählung, Poesie, Metapher, Symbol, Verfremdung), IV. Störfälle. Kommunikationsprobleme während der Predigt (ausgehend vom klassischen Modell Sender-Aussage-Medium-Empfänger-Nachvollzug wird die aktive Rolle des Hörer herausgearbeitet: er »muss aus der Predigt etwas machen« [122]), V. I can resist everything except temptation ­ Über den Humor in der Predigt (ein Plädoyer, dass Lachen in die Predigt gehört), VI. Auf alle Fälle: Passage, der weise Schritt (über die homiletische Wahrnehmung von Kasualien), VII. Das Wort zum Fernsehen oder Medienhomiletik (womit gezeigt wird, dass das Fernsehen für Verkündigung nur tauglich ist, wenn es personale Interaktion komplettiert, nicht, wenn es sie ersetzt), VIII. Die garstige Predigt. Vierundneunzig Thesen über ein ungeliebtes Kind (zur politischen Predigt), IX. Predigt des Unscheinbaren. Frankfurter Homiletik (wirbt dafür, in der Lebenswelt der Hörer »die kleinen Dinge des Alltags« [232] wahrzunehmen), X. Die halbe Miete. Vorbereitung & Planung (behandelt Aspekte der Predigtvorbereitung und des hörergemäßen Predigtvortrags), XI. Aufstand des Körpers oder Die Stimme des Rufers (über das Phänomen der Stimme und das sinnlich-körperliche Sprechen).

Das Buch bietet eine Fülle von Hinweisen und Beobachtungen, die anregen, Predigt als Dialog mit der Zuhörerschaft zu verstehen und mit »nicht-vereinnahmende[m]« (225) Blick auf ihre Lebenswelt, aufmerksam für das Kleine, zu predigen. Unverkennbar ist Th.s Lust am Wortspiel und am postmodernen Spiel mit Theorieansätzen und Perspektiven, das manchmal auf Kosten der gedanklichen Stringenz geht. Seinem Anspruch, dem Bedürfnis des Praktikers zu genügen, wird er am ehesten dort gerecht, wo er rhetorische Aspekte der Predigt an Beispielen analysiert (vgl. Kap. IV, VII und XI).

Über der Beschäftigung mit dem rhetorischen Wie der Predigt gerät ihm das Was stark in den Hintergrund. Es bleibt ebenso fraglich wie die Wahrheit der Predigt. Bei allem Sinn für Predigtkunst wäre genauer zu reflektieren, was das Amt des Predigers ist und wie die Person sich angemessen dazu verhält. Hier geht es nicht nur um »Redlichkeit des Verkünders« (62), sondern um Entsprechung zu dem, in dessen Namen gepredigt wird. Ein sophistisches Über-alles-reden-können gewährleistet keineswegs, dass jemand das Evangelium predigt. Während die klassische rhetorica sacra biblische Sprachformen nachahmt und dafür Exempel heranzieht, ist in dieser religiösen Rhetorik ein Ausfall biblischer Kategorien zu beobachten. Nachfolge, Zeugnis, die Spannung zwischen Rhetorik und dem Erweis des Geistes und der Kraft (1Kor 2,4) sind keine verbindlichen Kategorien mehr, an denen ein Prediger sich zu bilden hat (mit einer Ausnahme: der Kategorie des 'Narren um Christi willen' [1Kor 4,10], vgl. 139 ff.).

Obschon Th. reichlich auf Sekundärliteratur verweist, fallen auch hier Defizite auf. So empfiehlt er z. B. den Radikalaufklärer Carl Friedrich Bahrdt als Lehrer für das Predigthandwerk (vgl. 44), ohne dessen bedenkliche Tendenz zur Selbstdarstellung auf der Kanzel zu sehen. Schleiermacher wird ausgiebig zitiert, während Kierkegaard, der gerade zur Kunst des Predigens Erhellendes zu sagen hat, gar nicht vorkommt. Das Lob der Poesie hätte gewonnen, wenn Th. gewichtige homiletische Zeugen dafür (J. G. Hamann, R. Bohren, D. Sölle) rezipiert hätte.

Rückfragen sind vor allem zu Th.s Ansatz angebracht. Er »will Rhetorik explizieren unter den Denk- und Erfahrungsbedingungen der Moderne und fruchtbar machen für theologische Homiletik« (15). Lässt dies noch eine offene Auseinandersetzung mit unterschiedlichen homiletischen Konzepten erwarten, so wird später emphatisch erklärt: Das Programm spekulativer Rhetorik sei »ein Konzept ultramoderner homiletischer Rhetorik, das höchste Aufmerksamkeit verdient, da es die Rezeptionsbedingungen der Moderne und Postmoderne präfiguriert« (30 f.). Das Göttliche sei durch den Vortrag darzustellen; es komme nur zur Evidenz »in der Realisierung durch den Hörer« (31). Damit wird m. E. der Rhetorik mehr aufgebürdet, als sie zu leisten vermag. Die Predigt hängt so ganz vom religiösen Selbstbewusstsein des Predigers ab. Wäre eine Predigtlehre, die dazu anleiten will, Gottes Spuren im Leben zu entdecken, nicht gut beraten, sich an Jesu Wort zu orientieren: »Ohne mich könnt ihr nichts tun« (Joh 15,5)? Kirche und Gemeinde werden nicht, wie Th. behauptet, durch die Rhetorik (!) oder die Predigt konstituiert (63 f.), sondern nur durch ein Predigen, das Christus präsent setzt.