Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1212–1214

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gause, Ute, u. Cordula Lissner [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 293 S. m. Abb. 8° = Historisch-theologische Genderforschung, 1. Kart. Euro 22,00. ISBN 3-374-02267-7.

Rezensent:

Heike Lipski-Melchior

Ein Stück bisher unerschlossener Diakoniegeschichte« (7) zugänglich zu machen, ist das Ziel dieses Bandes. Er basiert auf einem Oral-History-Projekt. Aus den biographischen Daten von 131 Diakonissen wurden 40 Interviewpartnerinnen ausgewählt, mit denen lebensgeschichtliche Interviews geführt wurden. Diese wurden verschriftlicht und mit Hilfe der Methodik der Oral History bearbeitet und ausgewertet. Ziel war es, über die geleistete Bearbeitung der Geschichte diakonischer Institutionen wie dem Diakoniewerk Kaiserswerth hinauszugehen und die Perspektive der Schwestern selbst in den Blick zu nehmen, wissenschaftlich gesprochen die »individuelle Subjektkonstruktion der Diakonisse« (17). Zwei Fragestellungen kristallisierten sich als zentral heraus: 1. Welche Rolle spielte die Sozialisation der Frauen für ihre Berufswahl? 2. Welche Bedeutung hatte die Mutterhausgemeinschaft als Angebot einer alternativen Lebensform für Frauen im zeithistorischen Kontext?

Der Band hat zwei Teile. Nach der Einleitung werden fünf Lebensgeschichten präsentiert, die auf offenen narrativen Interviews beruhen. Die Auswahl lässt Diakonissen der ursprünglichen Form, der neuen Form und eine diakonische Schwester zu Wort kommen. In ihr spiegeln sich die Weiterentwicklung des Diakonissenmutterhauses zum Diakoniewerk und die Reform der Schwesterngemeinschaft. In den Lebensläufen bildet sich der Wandel in den Diakonissenbiographien ab. Außerdem werden verschiedene Arbeitsfelder im In- und Ausland und in Krankenhäusern und Kirchengemeinden lebendig.

Im zweiten Teil werden die Aspekte des Kosmos Diakonissenmutterhaus aufgefächert: Religion, Arbeit, Frauengemeinschaft, individuelle Lebens- und Berufsgeschichte.

Aus kirchenhistorischer Perspektive beleuchtet Ute Gause die Diakonissengemeinschaft als spirituelle Gemeinschaft und geht der Frage nach, wie vorgegebene Glaubenspraxis und individuelle Frömmigkeit aufeinander bezogen sind. Sie charakterisiert die Schwesterngemeinschaft als Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft, die einen alternativen Lebensentwurf verfolgte. Entscheidend für den Eintritt in die Gemeinschaft war die individuelle Frömmigkeit, die die Frauen aus ihrer Sozialisation mitbrachten. Sie wurde in der Gemeinschaft gestützt. Die Gebetsgemeinschaft der Schwestern trug die geistliche Gemeinschaft, während in der praktischen Dienstgemeinschaft häufig Spannungen auftraten. Gause arbeitet heraus, dass die religiöse Legitimierung ihres Berufswunsches durch eine Berufung den Frauen den Weg in die berufliche Karriere mit sozialer Anerkennung ermöglichte, die sie der Ehe vorzogen. In der praktischen Arbeit konnte die eigene Frömmigkeit im Dienst am Nächsten gelebt werden.

Birgit Funke wählt aus religionspädagogischem Interesse für ihre Analyse Interviews mit Diakonissen aus, die in pädagogischen Arbeitsfeldern tätig waren. Ihre Untersuchung zeigt, dass diese beruflich oft doppelqualifizierten Frauen anders als die in der Pflege Tätigen außerhalb der Schwesternschaft Gemeinschaft erfahren konnten, indem sie Beziehungen zu »Wahlfamilien« aufbauten, die über ihre aktive Dienstzeit hinaus Bestand hatten.

Die Pflegewissenschaftlerin Margot Sieger betrachtet kritisch die Arbeitssituationen der Diakonissen in der Krankenpflege. Sie zeigt den Widerspruch auf, dass die Frauen auf der einen Seite keinen selbst verantworteten Handlungsbereich hatten, andererseits auf sich gestellt waren, wenn es darum ging, aus Situationen heraus zu lernen, Herausforderungen zu bewältigen und Problemlösungen zu finden.

Auch die im Ausland tätigen Diakonissen konnten ihre Erfahrungen nicht in die Arbeit in Deutschland einbringen, im Gegenteil, es war sogar unerwünscht. Cordula Lissner macht darauf aufmerksam, dass diese Frauen eine besondere Gruppe innerhalb des Kosmos Diakonissenmutterhaus bildeten. Als privilegierte Gruppe »temporärer Arbeitsmigrantinnen« (244) erlebten sie die Aufwertung ihres Diakonissenstatus, denn hier konnte einer leitenden Schwester mehr Macht und Verantwortung zuwachsen als zu Hause. Sie kamen wenig mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt, denn ihre Aufgabe war die Betreuung deutscher Staatsangehöriger und einer internationalen Oberschicht (254). Bei ihrer Rückkehr hatten diese Schwestern Schwierigkeiten, sich in den Arbeitsfeldern im veränderten Deutschland und im veränderten Diakoniewerk zurechtzufinden. Mit ihrer interkulturellen Kompetenz, ihrer Professionalität und Selbstständigkeit fügten sie sich nicht mehr nahtlos in die Schwesterngemeinschaft ein.

Uwe Kaminsky liest die Interviews mit Blick auf gesellschaftliche Erfahrungen in der NS-Zeit. Er stellt fest, dass die meisten Diakonissen in ihrer Erinnerung an diese Zeit unpolitisch erzählen und u. a. die Zwangsarbeit unkritisch hingenommen wurde.

Norbert Friedrich nimmt eine Verhältnisbestimmung der Diakonissen zur Organisation Diakonissenanstalt bzw. Diakoniewerk vor und resümiert, dass beide aufeinander angewiesen waren. Während sich die Frauen zur Schwesterngemeinschaft uneingeschränkt zugehörig fühlten, war ihr Verhältnis zur Institution ambivalent. Die durch die Institution vorgegebenen Arbeitsplatzwechsel der Frauen waren selbstverständlich, ebenso der Gehorsam, der sich aus ihrer grundsätzlichen Anerkennung der Autorität des Mutterhauses ergab. Friedrich beschreibt den Diakonissenberuf als Angebot eines Lebensweges, der christliche Existenz mit beruflicher Tätigkeit verband und die Bereitschaft voraussetzte, sich flexibel und gehorsam in die Institution zu integrieren. Die Schwesterngemeinschaft nahm eine vermittelnde Rolle ein, wenn die Einzelne im inneren Konflikt mit den Regeln oder Erwartungen der Institution stand.

Ein neu erschlossenes Stück Diakoniegeschichte wird dem Leser anschaulich und spannend präsentiert. Dabei wird die Geschichte der Diakonissen nicht glorifiziert. Ehrlich und kritisch äußern sich sowohl die befragten Zeitzeuginnen als auch die Bearbeiter und Bearbeiterinnen der Interviews. So wird erstmalig die Erinnerung der Diakonissen für die Zukunft aufbewahrt und die Diakoniegeschichte um ihren Blickwinkel erweitert. Deutlich wird die Differenzierung in der Identität zwischen Diakonissen, die im Ausland tätig waren, den Erzieherinnen und den Diakonissen in der Krankenpflege. Ebenso wird erhellt, wie Frauen verschiedener Generationen im 20. Jh. in den durch die Institution Diakonissenmutterhaus gesetzten Spielräumen und Grenzen ihren Weg als Diakonisse als Teil einer Gemeinschaft und zugleich individuell gestalteten.

Durch die Eröffnung des Bandes mit den Lebenserzählungen in der Ichform treten Diakonissen als Subjekte auf, die ihre Lebensgeschichte erinnern, kritisch reflektieren und sich im Rückblick mit dem Kosmos Diakonissenmutterhaus auseinandersetzen. Dass die Autorinnen und Autoren des zweiten Teils nur partiell auf die abgedruckten, ausführlichen Lebensgeschichten zurückgreifen, ist schade. Doch der Horizont der Leserschaft erweitert sich durch die mosaiksteinchenartig eingefügten Einblicke in die Lebenssituationen der anderen Interviewpartnerinnen.