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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1204–1206

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lüttich, Stephan:

Titel/Untertitel:

Nacht-Erfahrung. Theologische Dimensionen einer Metapher.

Verlag:

Würzburg: Echter 2004. X, 350 S. 8° = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 42. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-429-02635-0.

Rezensent:

Georg Nicolaus

L. will in seiner Arbeit die Nacht »als Locus theologicus sui generis verstehen und der systematisch-theologischen Relevanz nachgehen, die ihrem metaphorischen Gebrauch für die Formulierung und Deutung individueller Glaubenserfahrung zukommt« (3). Die schon im traditionellen Gebrauch der Metapher aufzeigbare Ambivalenz der Nachterfahrung ­ zwischen den oberflächlich sichtbaren negativen und den tiefer liegenden positiven Konnotationen changierend ­ ist der entscheidende Ansatzpunkt von L.s Untersuchung, den er noch einmal theologisch-biographisch zuspitzt: Die Nachtmetaphorik gewinnt eine besondere Dynamik, weil sie in ihr eigener Weise die Situation einer biographischen Krise theologisch zu formulieren, zu deuten und durchzustehen erlaubt. Dieser Verflechtung von Glaubens-Biographie und Theologie geht L. in den drei Teilen seiner architektonisch wohldurchdachten Arbeit auf je unterschiedliche Weise nach:

In einem kürzeren ersten Teil skizziert er die »Bedeutungsfülle der Nacht-Metapher« (8) in einem Triptychon, in dem überraschende und entscheidende Stationen einer Theologie der Nacht mit knappen Strichen aneinandergereiht werden: In der Bibel wird die Nacht zum Ort der Wahrheit über Tod und Leben ­ sehr anschaulich gemacht in der Nacht des Saul in En-Dor (11 ff.) und der Nacht des Nikodemus (17 ff.). In der Liturgie sind es die heiligen Nächte von Geburt, Tod und Auferstehung, die anhand der Feier der monastischen Komplet (25 ff.), der Osternacht (30 ff.) und der Weihnacht (37 ff.) abgeschritten werden. Als Prinzip der Gotteserkenntnis fungiert die Nacht schließlich in der Theologie des Johannes vom Kreuz (42 ff.), womit L. zu seinem eigentlichen Interessengebiet überleitet, der Verschränkung von Biographie und Denken im Gebrauch der Nachtmetaphorik. Rückblick und Auswertung (59 f.) beschließen diesen einleitenden Teil wie auch die folgenden vier Kapitel des zweiten Teils und erlauben so eine rasche Orientierung.

Der ausführliche zweite Teil zeigt »Vier poetisch-mystische Ausformungen der Nacht-Theologie« (61). Mit Blaise Pascal (62­102), Novalis (103­141), Gerald Manley Hopkins (142­192) und Reinhold Schneider (193­241) wählt L. vier Denker aus dem 17. bis 20. Jh., bei denen in je unterschiedlicher Weise die Nachtmetaphorik von herausragender Bedeutung ist, sowohl für die Artikulation ihrer eigenen Erfahrung als auch für ihre theologischen Überlegungen. L. zeichnet jeweils beide Ebenen nach, indem er sie zueinander in Beziehung setzt. Die bekannte Gefahr solchen Vorgehens ­ das Gedachte einseitig aus dem Erlebten herzuleiten, ohne mögliche Wechselwirkungen zu bedenken und so nolens volens in einen 'Materialismus höherer Ordnung' zu verfallen ­ vermeidet L. weitgehend. Als Fazit seiner Darstellung von Reinhold Schneiders Verwendung der Nachtmetaphorik hält er fest: »Die Nacht-Metapher, die für den Dichter im letzten Jahrzehnt seines Schaffens untrennbar mit der Todesnacht Christi verbunden bleibt, ist weit mehr als ein sprachliches Bild, mit dem er bestimmte Inhalte transportieren will ­ sie wird für die Personen seiner historischen Dramen und schließlich für seine eigene Existenz zur Lebensform selbst, zu dem Raum, in dem er die Widersprüche und Gegensätze der Geschichte und der Natur, seine körperlichen und seelischen Leiden in Gemeinschaft mit der Todesnacht des Menschensohnes ertragen und gestalten kann.« (240 f.)

Für das Potential einer Theologie der Nacht entscheidend sind nun die in den individuellen Lebens- und Denkwegen aufscheinenden Überlegungen, die L. in seinen vier lesenswerten Darstellungen der einzelnen Denker erhebt. In sorgfältiger Textarbeit analysiert L. die Bedeutung der Nachtmetaphorik quer durch verschiedene Werke. (In einem Anhang [310­325] sind dankenswerterweise die wichtigsten der interpretierten Texte zusammengestellt, so dass sich L.s Deutungen direkt nachvollziehen lassen.) Er rekonstruiert mögliche biographische Hintergründe, weist diesen aber den ihnen zukommenden Status zu. Hier wird der Erfahrungsbezug imaginiert, der zur Verwendung der Nachtmetaphorik Anlass gibt. Aber mehr noch wird in L.s Lektüre der Texte die erschließende Kraft der Nachtmetaphorik erkennbar, die für sehr unterschiedliche Denk- und Lebenssituationen tragfähige Deutungsmodelle in sich schließt.

Die Ergebnisse dieses zweiten Teils stellen eine deutliche Anfrage an L.s anfängliche Metapherndefinition dar: Wenn tatsächlich bei einer Metapher »eine bestimmte Formulierung durch eine andere ersetzt wird, um so die beschriebene Wirklichkeit treffender auszudrücken« (3) ­ was wären denn die »ursprünglichen Wendung[en]« (ebd., vgl. 291), die Pascal, Novalis, Hopkins und Schneider 'ersetzt' haben? Ist ihre metaphorische Erfassung der Wirklichkeit mit Hilfe der Nachtmetapher nicht die primäre? Ist sie nicht sogar, wie L. im zweiten Teil zeigt, diejenige, in der diese Wirklichkeit als Ganze (nämlich einschließlich der Dimension von Gottes Handeln) überhaupt erst fassbar wird?

Die im zweiten Teil gewonnenen Ergebnisse setzt L. im dritten Teil »Nacht als Locus theologicus« (242­299) erfreulicherweise nicht in einen allgemeinen theologischen Traktat De nocte um, sondern verbindet sie mit einer Darstellung der »Theologie der Nacht und Nacht der Theologie bei Erich Przywara« (242). L. skizziert in diesem verschiedene 'Strukturmerkmale' einer 'Theologie der Nacht'. Nach Ansicht des Rezensenten sind die Przywaras Verwendung der Nachtmetapher gewidmeten Passagen die gewichtigeren ­ während die Darstellung der verschiedenen als 'kleinster gemeinsamer Nenner' anzusprechenden Übereinstimmungen der vier rekonstruierten Ausformungen konzeptionell und inhaltlich weniger Substanz aufweist. In Bezug auf Przywaras Theologie arbeitet L. die Verschränkung von Biographie und Theologie heraus (245 ff.). Als Charakteristikum aller fünf Biographien und erstes Strukturmerkmal einer Theologie der Nacht sieht L. dementsprechend das »biographische 'Zwischen', das sich aus den inneren und äußeren Entfremdungen ergibt« (249).

L.s zweites Strukturmerkmal lautet: Bei den vorgestellten Autoren steht immer auch die Todesnacht Christi von Gründonnerstag bis Ostern im metaphorischen Hintergrund (251­261). L. hat wohl deshalb in seine Behandlung der Nachtmetapher durchgehend die zum Verständnis dieses Metaphernaspekts wesentliche Lichtmetaphorik mit aufgenommen; schlägt doch die Nachtmetaphorik mit Ostern weitgehend in diese um. Doch hier offenbaren sich gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Konzeptionen, die auf eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung und Deutung dieser Todesnacht schließen lassen.

Geht es bei Pascal in Anlehnung an die Offenbarung Gottes im brennenden Dornbusch um die Nacht als Ort der Offenbarung des göttlichen Feuers (76 ff.), so beschreibt Novalis laut L. etwas gänzlich anderes, nämlich die »nächtliche Gegenwart Gottes in einer Welt des Lichts« (134). Hopkins¹ Gedichte wiederum gehen neben der Todesnacht Christi von der Angst der Jünger im Seesturm und dem Gang Jesu auf dem Wasser (148) sowie der Nacht von Jakobs Kampf am Jabbok (173) und Ijobs Leid (177) aus. Bei Reinhold Schneider hingegen zeigt sich eine bemerkenswerte Wendung weg von Ostern hin zum Karfreitag und damit eine durchaus nicht unproblematische Variante der theologia crucis, die Schneider pointiert charakterisiert: »Das Christentum will ins Dunkel; denn das Dunkel ist Licht« (zit. 237). Przywara formuliert ähnlich und doch anders: »Das absolute Licht, das alles licht macht, erstrahlt als absolute Nacht, die alles einnachtet.« (zit. 258 f.) Und schließlich Karl Rahners Aussage, dass die Nacht »dem Glaubenden nichts ist als die unsere Augen blendende Finsternis des überschwenglichen Lichtes Gottes« (zit. 261) ­ ist dies alles so ohne Weiteres deckungsgleich? Den kaum als nebensächlich anzusehenden Divergenzen im Verhältnis von Nacht und Licht hätte der Rezensent gerade unter systematisch-theologischem Gesichtspunkt eingehendere Differenzierung gewünscht, da der christologische Ertrag vermutlich nicht unerheblich gewesen wäre.

Als drittes Strukturmerkmal sieht L. die Spannung zwischen den Polen der Nachtmetapher an (262 ff.), die zu einer durch die Erfahrung der Nacht 'geläuterten' Form menschlicher Gottesbegegnung führt ­ »das gilt zunächst für das Geschick des Gott-Menschen Jesus Christus, in dem sich in der Nacht des Kreuzes die größte Tiefe göttlicher Offenbarung enthüllt, das gilt aber ebenso für die Nacht-Erfahrung im Leben des einzelnen Menschen. ... Der Mensch, der im Leiden an die Grenzen seiner Existenz geführt wird, kann beginnen, sein Gottesbild von Projektionen eigener Glücks- und Vollkommenheitsvorstellungen zu befreien« (270 f.).Das vierte Strukturmerkmal L.s bezieht sich auf die sprachliche Form der Theologie der Nacht. Die »Nacht als Gestus der Sprache« (278 ff.) besteht für ihn in der s. E. charakteristischen Verschränkung von tiefer Verwurzelung in der Sprache der biblischen Tradition und christlichen Überlieferung einerseits und ausgesprochen kreativ-poetischem Umgang mit der Sprache andererseits. Nach einer abschließenden knappen Ortsbestimmung im Feld theologischer Metaphorologie (290­299) imaginiert L. in einem Epilog die Nachtmetaphorik, wie sie im Werk des französischen Denkers Michel de Certeau Bedeutung haben könnte (300 ff.), um damit eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen.

Register, die die Untersuchung nach ihren biblischen und sachlichen Bezugspunkten aufschlüsseln, wurden leider nicht beigegeben. Der Qualität von L.s Textanalysen und seiner aufschlussreichen Darstellung verschiedener Verwendungsweisen der Nachtmetaphorik tut das keinen Abbruch.