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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1192–1195

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Morgenroth, Matthias:

Titel/Untertitel:

Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 302 S. 8°. Kart. Euro 24,95. ISBN 3-579-05195-4.

Rezensent:

Karl-Heinrich Bieritz

Um es vorwegzunehmen: Dies ist keine jener zahlreichen weihnachtlichen Praxis-Hilfen, wie sie alle Jahre wieder den kirchlichen Buchmarkt überschwemmen, sondern ein Buch mit einem hohen theologischen Anspruch. Wird hier doch nichts weniger als ein epochaler theologischer Paradigmenwechsel angesagt und eingefordert: weg von einem archaischen Christenglauben, der sein Zentrum in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi hatte und hat, hin zu einer neuzeitlich-bürgerlichen Form des Christentums, das seine Mitte, seinen Grund und sein Ziel statt dessen in der Krippe findet, im Ereignis der Christgeburt, das wiederum als Symbol, als Gleichnis für die Menschwerdung des Menschen zu begreifen ist. Weihnachts-Christentum meint darum nicht nur eine spezifische Gestalt jahrszyklischer Frömmigkeit, sondern versteht sich als Bezeichnung für eine neue, zeitgemäße Figuration christlicher Religion überhaupt.

Theologisch wird solcher Wechsel als Übergang »vom thanatologischen zum natologischen Religionskonzept« beschrieben: »An die Stelle der Versöhnungschristologie tritt ... eine Erlösungschristologie.« Das Geheimnis der Menschwerdung ­ bildhaft verdichtet in der »Inkarnationsmetapher« als der »alles grundierenden Wurzelmetapher des Christentums« (236 u. ö.), poetisch entfaltet in den biblischen Geburtslegenden (vgl. 46­61.147­154) ­ verdrängt das österliche Geheimnis vom Sieg des Lebens über Sünde, Tod und Teufel (Katholiken sprechen vom Pascha-Mysterium) aus der Mitte des christlichen Glaubens. Nicht Ostern, sondern Weihnachten ist darum das Hauptfest des neuzeitlichen Christentums, und der zentrale Ritus, in dem dieses Weihnachts-Christentum sich darstellt und mitteilt, ist nicht länger das Abendmahl, sondern die Taufe, die freilich auf den Aspekt der »Gotteskindschaft« (141 f.; vgl. 238 u. ö.) beschränkt und damit ebenfalls aller österlichen Bezüge entkleidet wird.

Über die Rede »vom Zur-Welt-Kommen Gottes, vom Gekommensein Gottes« (236) versucht der Vf., seinen Ansatz mit aktuellen theologischen Entwürfen zu verzahnen. So sind es insbesondere Eberhard Jüngel und dessen »Theologie vom kommenden Gott«, die er zu Kronzeugen seiner »Weihnachtstheologie« aufruft (vgl. 19.222­224). Er wirft dem Dogmatiker jedoch vor, dabei auf halbem Wege stehen zu bleiben, weil der seine »Theologie des Advents« immer noch mit dem Wort vom Kreuz verknüpft und nicht Inkarnationstheologie und Weihnachts-Christentum nutzt, um »dem Kommen Gottes in der Sprache eine inhaltliche Entsprechung in der Verkündigung beizuordnen« (224). Dem hält er entgegen: »Gottes Sein ist im Kommen ­ das führt nicht zum Kreuz«, sondern »zum Stall in Bethlehem, zur Erzählung vom wahren Menschsein in Christus, zur Inkarnation« (237).

Ein zweiter Kritikpunkt an Jüngel betrifft dessen Bestimmung der Gottesbegegnung als Sprachereignis: »Das Weihnachts-Christentum«, so schärft der Vf. uns ein, »ist eine Festreligion, keine Glaubensreligion« (128.145 u. ö.), genauer: eine »Fest- und Stimmungsreligion, in der das Bekenntnis nur eine untergeordnete Rolle spielt« (12). Als Festreligion jedoch lebt es von leibhaft-sinnlichen Symbolen, realisiert sich dezidiert im Modus »symbolischer Kommunikation« (142). Denn nur über Symbole und die dadurch indizierten Stimmungen ­ und nicht über Glaubensaussagen oder Bekenntnisformeln ­ kann heutzutage »die Integration unterschiedlichster Menschen mit unterschiedlichem religiösem Wissen, mit unterschiedlichen individuellen Glaubensbekenntnissen und Lebensstilen« gelingen (143). Das heißt zugleich: Das Weihnachts-Christentum inszeniert sich auf eine festlich-spielerische, dramatisch-mimetische Weise, nicht zuerst im Wort, sondern im »gestischen Nachvollzug« (224), in der »ästhetischen Interaktion religiöser Subjekte« (142): »Weihnachten ist das Theaterfest der Kirche« (152), und das Weihnachts-Christentum präsentiert sich als »poetischer Glaube, virtueller Glaube, spielerischer Glaube« (153).Seinen Grund findet solch fundamentaler Wechsel vom Kreuz zur Krippe in der unaufhaltsamen Individualisierung und Pluralisierung aller Lebensverhältnisse in der bürgerlichen »Nach-Moderne« und der damit verbundenen »Individualisierung der Religion« (130 ff.). Das Weihnachts-Christentum ist Ausdruck solcher Entwicklung. Es entspricht »der modernen Innerlichkeit von Religionsfragen und der Intimität einer individualisierten selbstgebauten Wertehierarchie ..., weil sich hier alle einklinken können, ohne sich selbst untreu zu werden« (135 f.).

Dies wiederum geht einher mit einer »Intimisierung« des Todes, mit seiner »'Verlagerung' ins Private«, weil es im Rahmen einer individualisierten Frömmigkeit schlichtweg keine Möglichkeit einer überindividuellen Sinndeutung des Todes mehr gibt (139 f.). Solch »modernitätsspezifisches Desinteresse am Tod« führt notwendig zu einem Bedeutungsverlust von Kreuz und Auferstehung: Beide haben »nur noch wenig Bedeutung mehr für das gegenwärtige Leben, das sich nicht mehr vom Tod her verstehen lässt«. Das Weihnachts-Christentum dagegen denkt »vom Anfang her, von der Geburt, es denkt vom Leben her, nicht vom Tod, es denkt für ein Leben diesseits des Himmels« (140).

Dies alles wird in dem Buch überaus materialreich und belesen entfaltet ­ es ist kaum ein berühmter Name aus den zeitgenössischen Kultur- und Geisteswissenschaften, der hier nicht aufgerufen würde. Teil I beschreibt Weihnachten als »Fest der bürgerlichen Moderne« ­ als Lichtfest, Bescherfest, Bibelfest. Teil II wagt einen »Durchzug durch die Dogmatik« ­ von den biblischen Geburtsgeschichten über die alte Kirche, die Reformation (Luther), die Aufklärung (Reimarus), den Neuprotestantismus (Schleiermacher) bis hin zu »Weihnachten in der modernen Literatur«. Teil III liefert »Bausteine für eine Theologie des gegenwärtigen Weihnachts-Christentums«. Seine »Strukturen« ­ auf die wir in unserer Besprechung besonderes Gewicht gelegt haben­ finden hier Darstellung, aber auch seine grundlegenden symbolisch-rituellen Elemente: die »heilige Familie«, die »heilige Kindheit«, »Grenzgänger« (wie Engel, Nikoläuse und Weihnachtsmänner), der ­ öffentliche wie private ­ »Weihnachts-Raum« (Markt, Kirche, Weihnachtszimmer) und die »Weihnachts-Zeit« (Advent, Zwischenzeit, Neujahr). Ein »Ausblick« bündelt noch einmal die theologischen Argumente.

Die notwendige theologische Auseinandersetzung mit diesem Konzept aufzunehmen, fehlt hier der Raum. Insgesamt überrascht die undifferenzierte, affirmative Harmlosigkeit, mit der z. B. religionssoziologische Theoreme rezipiert und dogmatisch überhöht werden. Solche Harmlosigkeit betrifft auch die Wahrnehmung und Interpretation der Phänomene selbst. Der Vf. gesteht zu, »die zur Genüge bekannten Missstände des Weihnachtsfestes« bewusst ausgeklammert zu haben (24). Aber es geht ja nicht nur um »Missstände«. Es geht um Widersprüche: Von Anfang an war und ist Weihnachten (man denke an den religionspolitischen Kontext, in dem es entstand!) auch eine Arena, ein symbolischer Kampfplatz, auf dem unterschiedliche Menschen-, Familien-, Gesellschafts- und Gottesbilder gegeneinander antreten und um die Vorherrschaft ringen. Sie bedienen sich dabei ­ und das macht die Sache so kompliziert ­ häufig des gleichen symbolischen Materials (dem Rezensenten z. B. ist die deutsche Weihnacht, die seine Kindheit prägte, noch ungut in Erinnerung). In der harmonisierenden Gesamtschau des Vf.s bleibt für solche Widersprüche kaum Platz.

»Das Weihnachts-Christentum«, schreibt der Vf., »ist die spezifisch bürgerlich-moderne Form der christlichen Religion und mit der Genese der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Wertvorstellungen aufs engste verbunden« (12). Das mag so sein. Aber dann ist es zugleich ein sehr partikuläres, elitäres, kontingentes Gebilde: Beschränkt auf jene kulturellen Regionen, Milieus und Schichten, die an dieser spezifischen, hier 'bürgerlich' genannten Gesellungsform partizipieren bzw. von ihr dominiert werden, ist es auf Gedeih ­ und Verderb! ­ mit ihr verbunden.