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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Sarah:

Titel/Untertitel:

Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. XIV, 422 S. m. Abb. gr.8° = Quellen und Studien zur Philosophie, 67. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-018343-9.

Rezensent:

Christian Danz

Klassiker-Ausgaben führen nicht selten zu einer neuen Erschließung und zu einer neuen Deutung von Autoren. Dies kann mit gutem Recht auch für die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie der Kieler SchleiermacherForschungsstelle besorgten Kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich Schleiermachers gesagt werden. Im Zuge des Voranschreitens der Ausgabe des protestantischen »Kirchenvaters« des 19. Jh.s entstanden eine Fülle von Publikationen, die zu einem genaueren Erschließen des problemgeschichtlichen Hintergrunds sowie der werkgeschichtlichen Entwicklung des großen Theologen und Philosophen des neueren Protestantismus führten. Naturgemäß stand zunächst die Rekonstruktion des religionstheoretischen Beitrags Schleiermachers zur Umformung von Religion und Theologie infolge der kantischen Kritik an den überlieferten Grundlagen der Ontotheologie im Fokus der Aufmerksamkeit. Dabei wurde selbstverständlich immer auch schon die Stellung Schleiermachers im Kontext der nachkantischen Transzendentalphilosophie untersucht und der eigenständige Beitrag Schleiermachers zu einer Transzendentalphilosophie gewürdigt. Insbesondere die von Andreas Arndt im Rahmen der Kritischen Gesamtausgab Schleiermachers herausgegebenen Vorlesungen über die Dialektik (KGA II/10, Berlin-New York 2002) haben nun der Forschung eine zuverlässige Quellengrundlage gegeben, die ältere Ausgaben der Dialektik, wie die von Odebrecht sowie den von Manfred Frank besorgten Nachdruck der Odebrecht-Ausgabe (Frankfurt a. M. 2001), vollständig ersetzen.

In diesem forschungsgeschichtlichen Kontext steht die von Sarah Schmidt angefertigte philosophische Dissertation, die im Jahre 2005 unter dem Titel Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung publiziert wurde. Die facettenreiche und gründliche Studie verfolgt zwei Ziele. Einmal soll angesichts einer zunehmenden Historisierung und Pluralisierung in der Moderne nach einer solchen Gestalt von philosophischer Endlichkeitsreflexion Ausschau gehalten werden, die zu einer reflektierten Orientierung im Endlichen anleitet. Und zum anderen möchte die Vfn. über die bisherige philosophische Forschung zu Schleiermacher hinaus, die sich weitgehend lediglich zu Einzelfragen aus dessen philosophischem ‘euvre geäußert hat, den »Gesamtcharakter der Philosophie Schleiermachers« (4) als einen in sich konsistenten systematischen Ansatz herausarbeiten. Methodische Schlüsselkategorie für die Rekonstruktion von Schleiermachers philosophischem Werk ist dabei nicht sein Verständnis von Transzendentalphilosophie, sondern der Gedanke der 'Wechselwirkung'. Mit diesem methodischen Schlüsselbegriff ist der Vfn. zufolge Schleiermachers Philosophie der Endlichkeit verbunden. Denn der Wechselwirkungsgedanke hebt genau auf den Umstand ab, dass ein absoluter Ausgangspunkt, aus dem das Einzelne und Bestimmte deduziert werden könnte, dem endlichen Denken und seiner reflexiven Selbsterkundung nicht zur Verfügung steht. Die synthetisierende Leistung des Denkens ist immer schon im Gange. Dabei ist ein Verständnis von Wechselwirkung leitend, welches dieses »als das wechselseitige Sich-Modifizieren und Bilden der einander koordinierten und subordinierten Teile eines Ganzen« (19) versteht. In den fünf Hauptabschnitten der Untersuchung wird der Wechselwirkungsgedanke als tragender Grundbegriff des philosophischen Werkes von Schleiermacher analysiert und herausgearbeitet.

Die Studie setzt mit einer Rekonstruktion des problemgeschichtlichen Hintergrundes von Schleiermachers Wechselwirkungsgedanken ein (15­56). Bekanntlich findet sich der Gedanke der Wechselwirkung nicht nur im Werk Schleiermachers, sondern auch bei anderen idealistischen und romantischen Autoren. In kategorialer Hinsicht thematisiert Kant Wechselwirkung in der Kritik der reinen Vernunft als Kategorie der Relation. Schleiermachers Aufnahme des Wechselwirkungsgedankens resultiert zunächst aus einer wechselseitigen Kritik von Kants Transzendentalphilosophie und Spinozas Theorie des Absoluten, wie sie in dessen Ethica ausgeführt ist. Die Vfn. arbeitet den spinozistischen Hintergrund von Schleiermachers Verständnis der Wechselwirkung in dessen frühen Spinozastudien heraus und weist auf den prägenden Einfluss von Spinozas Substanzgedanken hin. Zwar übernimmt, wie bereits Günter Meckenstock in seiner Studie zu Schleiermachers Spinoza-Rezeption gezeigt hat, Schleiermacher das spinozistische Modell der Bestimmung des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem in einer durch die kantische Transzendentalphilosophie gebrochenen Weise, gleichwohl bildet dessen Bestimmung, wie die Reden Über die Religion und die späteren Vorlesungen zur Dialektik zeigen, den Rahmen für Schleiermachers eigene Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem als einem Wechselwirkungsverhältnis. Neben Spinoza macht die Vfn. Friedrich Schlegel als herkunftsgeschichtlichen Bezugspunkt von Schleiermachers Verständnis der Wechselwirkung aus. Das zweite Kapitel untersucht die Entfaltung des Wechselwirkungsgedankens in Schleiermachers Berliner Schriften von 1798 bis 1801 (57­100). Textgrundlage der Analyse bilden hierbei Schleiermachers Reden Über die Religion von 1799, die Monologen (1800), der Fragment gebliebene Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), die Vertrauten Briefe zu Friedrich Schlegels Lucinde (1800) sowie der Dialog Über das Anständige (1800). Die Vfn. arbeitet die Vielschichtigkeit und die differenzierten Verwendungskontexte des Wechselwirkungsgedankens in dem Frühwerk Schleiermachers, insbesondere dessen ethische Zuspitzung heraus. Thematisiert wird mit dem Wechselwirkungsgedanken die Frage der Vermittlung der Einbindung des Individuums in gesellschaftliche Zusammenhänge mit der Freiheit des Individuums (87 f.). In dieser Problemkonstellation deutet sich eine Theorie einer endlichen Freiheit an, in der vollendete Wechselwirkung als »ein 'ethisches Ideal'« (93) fungiert. Die systematische Entfaltung und Begründung des Wechselwirkungsgedankens liegt in Schleiermachers Dialektik vor, die er erstmals 1811 als Vorlesung an der neu gegründeten Berliner Universität gehalten hat. Deren Rekonstruktion ist das dritte Kapitel der Studie gewidmet (101­204). Die Interpretation der unterschiedlichen Dialektik-Entwürfe Schleiermachers geschieht unter der Leitfrage »Wie ist eine Orientierung im Endlichen vom Endlichen aus möglich?« (101). Erkundet wird die systematische Begründung einer Philosophie der Wechselwirkung aus der Perspektive des endlichen Wissens und des mit diesem verbundenen Streits des Wissens. Der Gedanke der Wechselwirkung der Denkformen zielt auf einen konstruktiven Umgang mit dem Streit des Wissens. Selbstverständlich resultiert aus Maximen der Wechselwirkung noch keine Streitschlichtung. Deren Einlösung obliegt der Hermeneutik, die den Gegenstand des vierten Kapitels der Untersuchung bildet (205­294). Die Vfn. bezieht die Hermeneutik in den Kontext der Dialektik ein und versteht diese als »integrale[n] Bestandteil der in der Dialektik ausgeführten 'Technik der Kritik'« (207). Untersucht Schleiermachers Verschränkung von Hermeneutik und Kritik die reale Entfaltung des Gesprächs unter der Voraussetzung des allgemeinen Missverständnisses, so wendet sich die im fünften und letzten Kapitel der Untersuchung rekonstruierte Ethik mit der »Wechselwirkung von Kunst, Wissenschaft und Leben« dem Kul- turthema zu (295­387). Im Vordergrund der Analysen der philosophischen Ethik Schleiermachers steht einmal »die Erweiterung der erkenntnistheoretischen Perspektive der Dialektik« und zum anderen die Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit einer Orientierung in der sittlichen Praxis« (295).

Die Vfn. rekonstruiert Schleiermacher als einen Theoretiker der Endlichkeit. Selbstverständlich lässt sich Endlichkeit immer nur in Unterscheidung von dem thematisieren, was sie nicht ist. Schon um Endliches als solches erfassen zu können, muss es überschritten werden. Eine Philosophie der Endlichkeit kann sich folglich nur als Grenzwertdialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit entwerfen. Diese Dialektik der Wechselwirkung hat die Vfn. in ihrer Untersuchung kenntnisreich und unter Einbeziehung der einschlägigen Forschungsliteratur herausgearbeitet. Allerdings wird dem Religionsthema in der Studie nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Lediglich im Zusammenhang der Untersuchung von Schleiermachers Berliner Schriften werden dessen Reden Über die Religion (59­71) gewürdigt. Dies ist aus dem Grund zu bedauern, als Religion eine Form der Endlichkeitsreflexion im Horizont des Unendlichen markiert, in welcher der Wechselwirkungsgedanke in die Selbstthematisierung und Selbstauslegung endlicher individueller Subjektivität überführt wird. Gleichwohl hat die Vfn. eine lesenswerte Studie vorgelegt, welche Schleiermachers Philosophie in ihrem systematischen Zusammenhang präsentiert.