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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1188–1190

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ribi, Alfred:

Titel/Untertitel:

Eros und Abendland. Geistesgeschichte der Beziehungsfunktion.

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2005. 380 S. m. Abb. 8°. Kart. ? 60,00. ISBN 3-03910-243-5.

Rezensent:

Ferdinand Fellmann

Ein sehr persönliches Buch, dessen Duktus man so beschreiben könnte: Der alte Mann und der Eros. Der Vf., der nach eigenen Angaben die Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt überschritten hat, beginnt mit einem sympathischen Geständnis: »Mir hat der Eros im Leben so viele Streiche gespielt, dass ich nicht umhin konnte, mich intensiv mit dem listigen Buben auseinander zu setzen« (22). Die Auseinandersetzung erfolgt in Form einer Interpretation von Traktaten über den Eros von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Renaissance. Den Anfang macht Diotimas Rede aus Platos Symposion, aus dem Alten Testament wird Das Hohelied herangezogen und für das Mittelalter der berühmte Briefwechsel von Abälard und Heloise. Großen Raum nehmen christliche Apokryphen sowie alchemistische Texte ein, die philologisch zuverlässig aufgearbeitet werden, so dass der geistesgeschichtlich interessierte Leser ganz auf seine Kosten kommt. Die historische Darstellung ist durchsetzt mit individual- und sozialpsychologischen Beobachtungen aus der psychiatrischen Praxis des Vf.s. Seine kulturkritische Botschaft lautet: In Europa hat sich trotz zahlreicher Anläufe keine nachhaltige Kultur des Eros entwickelt. Schuld daran ist nicht in erster Linie der Rationalismus, sondern die christliche Dogmatik, die den verdeckten und widersprüchlichen erotischen Aspekten der religiösen Erfahrung nicht gerecht wird (81). Erklärtes weltanschauliches Ziel des Buches ist es, Wege zu einem ganzheitlichen Eros als Leitkultur aufzuzeigen, der die Wunden der christlichen Lustfeindlichkeit sowie der modernen Sexbesessenheit heilen soll.

Den konzeptionellen Rahmen der Darstellung liefert C. G. Jungs analytische Tiefenpsychologie, insbesondere seine Lehre von den Archetypen des kollektiven Unbewussten, der sich der Vf. in Theorie und Praxis eng verbunden fühlt. Damit bekommt er ein begriffliches Instrumentarium an die Hand, das Seiten der psychosozialen Wirklichkeit beleuchtet, die in den positivistischen Sozialwissenschaften in der Regel unterbelichtet bleiben: Individuationsprozess, Projektion und Introjektion, Dissoziation und Kompensation des Bewusstseins. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu Freuds kulturphilosophischer Anwendung der Psychoanalyse ziehen, nur dass eben nicht Freud, sondern Jung Pate steht, der Freuds energetisches Modell des psychischen Apparats ins Numinose erweitert hat. Damit aber gerät der Eros als »Beziehungsfunktion«, die seit langem psychologisch und soziologisch differenziert beschrieben und analysiert wird, in ein weltanschauliches Zwielicht. Das wird durch die Auswahl der Texte verstärkt, die spätantiken Unterströmungen entstammen und in der Renaissance an die Oberfläche treten. Durch ihre Aufwertung erwecken sie beim Leser den Eindruck, als lägen hier die eigentlichen Schätze der abendländischen Kultur. Das gilt insbesondere für die Alchemie, deren Texte schon C. G. Jung religionspsychologisch als Tor zu einem von der Theologie verschütteten Paradies der Vereinigung aller Gegensätze des menschlichen Daseins interpretiert hat. Auch der Vf., der seine Textsammlung mit der Chymischen Hochzeit des Johann Valentin Andreae (1586­1654) beendet, sieht in der Alchemie eine Protopsychologie, welche die überpersönlichen Gesetze des Psychischen formuliert. Hier hätte ein Hinweis auf Goethes Wahlverwandtschaften genügt, um das alchemistische Paradigma zu entmythologisieren. Kurzum: Ein bisschen mehr wissenschaftstheoretische Nüchternheit hätte dem treuen Schüler Jungs auch im Interesse einer gerechten, d.h. distanzierten Beurteilung seines Lehrers nicht geschadet.

Am Anfang seines Buches betont der Vf., er wolle nicht das »Wesen« des Eros darstellen, »sondern die Einstellung zum Eros im Abendland« (14). Diesem methodologisch begrüßenswerten Vorsatz bleibt er aber nicht treu. Immer wieder wird über den Eros wie über einen Gott oder Dämon gesprochen, der über den Köpfen der Menschen heute noch so herrscht wie in mythologischer Vorzeit. So verwundert es auch nicht, wenn es am Ende des Buches heißt: »Wenn mein Buch hier etwas zum besseren Verständnis des Wesens des Eros beitragen kann, so schätze ich mich glücklich« (350). Bei diesem Satz kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, als sei die propagierte Kultur des Eros doch so etwas wie eine Ersatzreligion. Sicherlich hat die christliche Dogmatik einen Gottesbegriff entwickelt, in dem die sinnliche Seite zu kurz kommt, worauf die Strömungen der christlichen Mystik immer wieder reagiert haben. Aber mit diesen Defiziten wird man nicht dadurch fertig, dass man den Eros als den vielgestaltigen, im Letzten aber geheimnisvollen Versöhner aller Gegensätze aufbaut. Hier lässt bei aller Zurückhaltung des Vf.s doch ein pseudoreligiöser Irrationalismus grüßen, der kaum den erhofften Einzug einer Eros-Kultur in die westliche Zivilisation bringen dürfte.