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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1181–1183

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Widmer, Peter:

Titel/Untertitel:

Mystikforschung zwischen Materialismus und Metaphysik. Eine Einführung.

Verlag:

reiburg-Basel-Wien: Herder 2004. XVI, 439 S. 8°. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-451-28322-0.

Rezensent:

Cornelia Richter

»Es ist nicht leicht herauszufinden, was Mystik im 20. Jahrhundert denn bedeuten kann.« (IX) ­ Mit diesem Satz eröffnet W. Schmidt-Biggemann das Vorwort zu Peter Widmers Monographie und trifft damit offensichtlich ins Schwarze. Denn obgleich W. im Titel eine »Einführung« in die Mystikforschung ankündigt, wird der Lesende am Ende nur bedingt über entsprechendes Wissen verfügen.

Zwar eröffnet W. seine Studie zunächst tatsächlich mit einem historischen Überblick (3­14), der aber zum einen reichlich knapp bemessen ist, zum anderen sogleich in wissenschaftstheoretische Erwägungen überführt wird (14­34) und daher nur bedingt den Anforderungen einer allgemeinen Einführung entspricht. Zu forciert ist die Einleitung von W.s These geraten, dass die Mystikforschung vor allem, um nicht zu sagen: ausschließlich, in »der Spannung und den komplexen Wechselwirkungen zwischen materialistisch-anthropozentrischen und metaphysisch-religiösen Deutungen der Mystik« (3) steht. Mystik werde daher entweder »ausgegrenzt als das Irrationale, Widervernünftige, Unsagbare, materialistisch Erklärbare oder vereinnahmt als höhere, metaphysisch-religiöse Erkenntnis« (3.401 u.ö.). So unbestreitbar es Positionen gibt, die solch einen harten Gegensatz vertreten, so unterkomplex scheint er jedoch als Grundunterscheidung einer wissenschaftlichen Analyse. Denn dass weder eine pauschale Ablehnung der Mystik als Anachronismus und Rückfall hinter die Aufklärung noch deren unkritische Aneignung zu einem differenzierten Urteil gelangen wird, ist offensichtlich. Hinzu kommt, dass die beschriebenen spannungsvollen Momente nicht nur der Mystikforschung, sondern auch der Mystik-Tradition selbst seit jeher und per definitionem angehören. Und selbst wenn W. darin zuzustimmen ist, dass »Mystik« nur schwer auf einen Begriff zu bringen sei und es daher stattdessen gelte, »die unterschiedlichen Aspekte von 'Mystik' kontextbezogen erfassen zu lernen« (34), so werden sich eben doch spezifische Bestimmungen angeben lassen, die in den vielfältigen Gestalten mehr oder weniger prononciert auftreten. Und ebendiese komplexe und problematische Relation von Gefühl, Intuition und leiblicher Präsenz einerseits und eben darin erlangter Erkenntnis oder Schau transzendenter, greifbar-ungreifbarer Größe andererseits gehört sicherlich dazu. Das Interessante ist ja gerade, in welchem Verhältnis die Relate jeweils gesehen werden und wie sie sich moment- und aspektabhängig sogar in ihr jeweiliges Gegenteil verkehren können, und zwar quer durch die reiche Tradition hindurch.

Im Blick auf die von ihm behandelten Positionen folgt W. denn auch einer durchaus ähnlichen Linie: Er porträtiert fünf prominente Mystikforscher und -forscherinnen, die sich sowohl selbst mystisch »versucht« als auch aus wissenschaftlicher Distanz mit mystischen Phänomenen beschäftigt haben: William James (35­148), Evelyn Underhill (149­225), Aldous Huxley (227­297), Bertrand Russel (299­347) und Ludwig Wittgenstein (349­400). Kennern der Mystikforschung sind diese Namen durchaus und gerade wegen der zum Teil widerläufigen logisch-analytischen philosophischen Ausrichtung geläufig und die jeweiligen einschlägigen Schriften gehören schlicht zu den »Klassikern« der Sparte. Weniger spezialisierte Lesende hingegen mögen erstaunt die vielfältigen Facetten der Genannten zur Kenntnis nehmen. Für sie bietet W. denn auch eine ausführliche und lebendige Darstellung von Leben und Werk, wobei er die Autoren selbst in gut gewählten Zitaten reichlich zu Wort kommen lässt. ­ Damit diese Tradition allgemein zugänglich erschlossen zu haben, ist W. durchaus als hohes Verdienst anzurechnen. Dass sich über seine Interpretation jeweils auch streiten lässt ­ etwa über die Frage, ob sich ausgerechnet W. James als Vertreter eines »offenen Systems« eignet (s.u.) oder inwieweit die Wahl zwischen »emotionsgeladenen Bildern persönlich-intimer Beziehung« (186) und einer »unpersönliche[n], abstrakte[n] Mystik« (188) geschlechtsabhängig ist (186­188), und vor allem ob die von W. dazu durchgeführte Analyse nicht selbst höchst »spekulativ« (ebd.) ist ­, gehört zum wissenschaftlichen Diskurs und muss daher nicht näher erläutert werden. Ebenso ist lediglich am Rande zu erwähnen, dass W. insgesamt zuweilen redundant verfährt und die Kapitel durch eine etwas deutlichere Strukturierung, Zuordnung der Argumentationsschritte und Parallelität, vor allem bezüglich der jeweiligen »Aktualität« noch hätten gewinnen können.

Gravierender ist jedoch eine andere, fast möchte man sagen zweite Problemstellung, die das Buch bestimmt: W. hat James, Underhill, Huxley, Russel und Wittgenstein nämlich deshalb ausgewählt, weil sie seines Erachtens die o. g. Grundspannung in besonderer Weise zur Geltung bringen bzw. verkörpern und sich gerade nicht einem der beiden extremen Lager zuordnen lassen. W. referiert sie daher als Kronzeugen einer aufgeschlossenen, nicht in wissenschaftlicher Abstraktion versunkenen (und im Elfenbeinturm verstaubten), sondern lebensnahen Mystikforschung, deren Einsichten in der und für die Gegenwart fruchtbar zu machen sind. Er eröffnet daher mit der s. E. zentralen Frage: »Welche Art von Theorie benötigen wir in einer sich zunehmend globalisierenden, pluralistischen Welt?« (2) und liefert sogleich die Antwort dazu: »Wir benötigen meiner Ansicht nach keine geschlossenen Theorien, die uns hermetisch isolieren, sondern offene, pass- und anschlussfähige Wissensbausteine und Meinungssysteme« (ebd.). Als das eigentliche Ziel der Studie lässt sich daher eine prononcierte wissenschaftstheoretische Argumentation angeben, die sich zu ihrer Exemplifizierung der genannten Autoren bedient. Sie werden analysiert unter den Gesichtspunkten von Denkkollektiven (nach L. Fleck, 17), motivationalen Knotenpunkten (nach L. Fleck, S. Freud, R. Reichwein, L. Ciompi u. a., 18­22), offenen und geschlossenen Wissens- und Meinungssystemen (24­31) und der Problematik des Wahrheitsbegriffs (31­33).

Dass W. dabei auf schwierige, prekäre, unkonstruktive und hinderliche Faktoren im alltäglichen Wissensbetrieb hinweist, steht außer Zweifel. Wer hinter die Kulissen der hehren Wissenschaft blickt, kennt nur zu gut die Zwänge der »Denkstilgebundenheit« (nach Fleck, 26), Schulzugehörigkeiten und Abhängigkeiten, so dass W.s Relecture von Th. Kuhn u. a. durchaus berechtigt ist. Gerade deshalb ist es jedoch bedauerlich, dass W. diese Kritik sowohl in der Weise zum Grundtenor seiner Studie macht, dass er sich einerseits gegenüber methodisch-epistemologischen Einwänden selbst immunisiert und dass andererseits seine Darstellung und Erörterung der fünf Positionen am Ende darauf reduziert wird, in welcher Weise die Autoren von motivationalen Knotenpunkten bestimmt (402­406) und von existenziellen Grenzsituationen geprägt (406­410) sind. Dies gilt umso mehr, als Letzteres in reichlich loser Argumentation erhoben und schließlich lediglich in seiner Faktizität festgestellt wird: »Meine Untersuchungen führen zu dem Schluss, dass motivationale Knotenpunkte ­ (quasi-)mystische oder als solche interpretierte Erlebnisse ­ und existenzielle Grenzsituationen in Wechselwirkung stehen. Darüber hinaus wird die Entwicklung von Interessen und Theorien, Überzeugungen, Argumentationsgängen beeinflusst von der Wechselwirkung mit verschiedenen Denkkollektiven und dem Oszillieren zwischen passiver und aktiver, relativ frei gelenkter Aufmerksamkeit.« (411) W. endet denn auch mit der Forderung, dass »Forscher ... die Kompetenz entwickeln [sollten], die Kontextabhängigkeit von Modellen zu erkennen und Modelle kontextabhängig so zu verwenden, dass konkrete Fragestellungen und existenzielle Lebensprobleme erfolgreich gelöst werden« (412). Eine Schlussfolgerung, die man im Blick auf W.s Studie selbst freilich nur zu gern mit einem »allerdings« zu kommentieren geneigt ist, ebenso wie seine eingangs vorgebrachte Absicht, »den wissenschaftlichen Forscher so [zu] betrachten, als ob er ein emotional-kognitiv-intentionales Subjekt sei« (2).