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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1178–1180

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lutterbach, Hubertus:

Titel/Untertitel:

Gotteskindschaft. Kultur- und Sozialgeschichte eines christlichen Ideals.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2003. 483 S. u. 23 Abb. im Bildteil. gr.8°. Geb. Euro 45,00. ISBN 3-451-27915-0.

Rezensent:

Frank Surall

In seiner breit angelegten Darstellung entfaltet der katholische Kirchengeschichtler L. in wechselnder Perspektive Gotteskindschaft als ein »Schlüsselbild der christlichen Geschichte« (21) von der Antike bis zum 20. Jh.Nach Bemerkungen im 1. Kapitel (15­38) zum Forschungsstand sowie zum biblischen und paganen Hintergrund der Metapher Gotteskindschaft wendet sich das 2. Kapitel (39­105) der Taufe zu. Dieser wurden »verjüngende Folgen« zugeschrieben, denen L. insbesondere anhand von Metaphern im Umkreis der Taufe und Eltern-Metaphern für Gott, Christus, Kirche und Maria in altkirchlichen und mittelalterlichen Quellen nachgeht. Das 3. Kapitel (106­164) ist mit dem vorangehenden leitmotivisch verbunden, insofern der Eintritt ins Kloster seit der Alten Kirche als zweite Taufe gedeutet wurde, die den Mönch zum »bevorzugten Kind Gottes« mache.

An das Leitmotiv der beiden vorigen Kapitel knüpft das 4. Kapitel (165­256) mit Reflexionen zum Aufkommen der Kindertaufe an. Danach stellt es anhand christlicher Bemühungen um Kinderschutz und -bildung sozialgeschichtliche Auswirkungen der Gotteskindschaft vom 4. bis zum 16. Jh. dar. Das 5. Kapitel (257­321) führt die Chronologie vom 17. bis zum 19. Jh. weiter. Pädagogische Aspekte werden in Zuspitzung auf einzelne Gruppen (Quäker) und Personen (Pestalozzi, Fröbel) auch in diesem Kapitel thematisiert, wobei Gotteskindschaft ansonsten stärker als geistliches Ideal akzentuiert wird.

Das 6. Kapitel (322­411) widmet sich der Heiligen Familie als Leitbild im Ultramontanismus des 19. Jh.s. In anderen Kontexten war dieses Motiv bereits zuvor des Öfteren begegnet. Auch andere Themen früherer Kapitel werden aufgegriffen und mit dem Motiv der Heiligen Familie verbunden, indem etwa dem ultramontanen Anspruch auf ein Monopol für Kinderbildung und -schutz nachgegangen wird. Die Höherbewertung des monastischen Lebens (Kapitel 3) setzte sich in der Stilisierung der benediktinischen Gemeinschaft zur Heiligen Familie als Vorbild für die gewöhnlichen Familien und andere Verbandsformen fort.

Ein knapper Ausblick (412­441) zieht die geschichtlichen Linien bis zum 20. Jh. aus. Das II. Vaticanum habe, vorbereitet u. a. von Anfragen der Reformation und der Aufklärung, das Ende der besonderen Gotteskindschaft zu Gunsten der allgemeinen Gotteskindschaft aller Getauften herbeigeführt. Die gewöhnliche Gotteskindschaft sei nicht länger als kultische Reinheit aufgefasst, sondern säkularisiert worden.

L. sieht die Kultur- und Sozialgeschichte der Gotteskindschaft am Ende mit dem Anliegen der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 konvergieren (428­437) und kritisiert, dass der christliche Beitrag zu den Kinderrechten meist übersehen werde. Zu hinterfragen ist dabei die Tendenz, die trotz partieller Affinität bestehende Differenz zwischen den hergebrachten Bestrebungen für Kinderschutz und -bildung einerseits und der modernen Kinderrechtskonzeption andererseits einzuebnen. Kinderrechte lassen sich nicht auf ein »Ideal der Kindersorge« (432) reduzieren, das in den westlichen Industrienationen weitgehend verwirklicht sei. Sie zielen über Schutz und Förderung hinaus auf eine aktive Beteiligung von Kindern nicht nur in exotischen »Kinderrepubliken« (433 ff.), sondern in allen Angelegenheiten, die Kinder in ihrem alltäglichen Umfeld betreffen.

Eine zentrale Bedeutung kommt in der Untersuchung durchgängig den Bezügen zu Jesu Umgang mit Kindern und Jesu eigener Kindheit zu, die L. in den Quellen aufzeigt. Sein Werk lässt sich insofern als Wirkungsgeschichte der betreffenden neutestamentlichen Texte lesen. Auch der methodisch konstitutive Zusammenhang zwischen der metaphorischen Bezeichnung erwachsener Gotteskinder und der (neuen) Wahrnehmung realer Kinder ist bereits in Mk 10,14 f. par. angelegt.

Der Rahmen einer ideengeschichtlichen Studie zur Verwendung der Metapher »Gotteskindschaft« wird bei weitem überschritten. Indem die Untersuchung die kultur- und sozialgeschichtlichen Auswirkungen des Konzepts der Gotteskindschaft auf die realen Kinder in den Blick nimmt, nähert sich ihr Erkenntnisinteresse über weite Strecken demjenigen der »Geschichte der Kindheit« von Philippe Ariès an, mit dem sich L. eingehend auseinandersetzt. So unbestritten dessen wegweisende Bedeutung für die kindheitsgeschichtliche Forschung ist, fehlt Ariès mitunter ­ wie L. zu Recht feststellt ­ ein Verständnis theologischer Begründungszusammenhänge. Daher stellt die kritische Ergänzung durch eine Kirchengeschichte der Kindheit, zu der L. wichtige Beiträge liefert, ein bislang kaum wahrgenommenes Desiderat dar. L. zeigt z. B. auf, wie im Spätmittelalter ein neues Verständnis des Kindes entstand, das eine an den kindlichen Bedürfnissen orientierte Pädagogik vorbereitete. Zugleich legt er bei Johannes Gerson und Dionysius dem Kartäuser die theologischen Grundlagen und Kriterien dieser Entwicklung frei, die bei Ariès im Dunkeln blieben.

Trotz des chronologisch wie thematisch weit gespannten Rahmens gibt L. über die verdienstvolle Auswertung der Literatur hinaus unter Rückgriff auf die Primärquellen auch der Forschung neue Impulse. Die Einbindung der kaleidoskopartigen Fülle unterschiedlicher Themen von der Taufliturgie bis zur Geschichte des christlichen Schulwesens in eine Sachsystematik gelingt hingegen nicht immer überzeugend. Die Zuordnung der Ausführungen zu Landesvater und Landeskind als Abbild von Gottvater und Gotteskind (293 ff.), die in der Perspektive der Gotteskindschaft durchaus erhellend sind, zu einem Abschnitt über »die mystische Verehrung des Jesuskindes« (V. 2) wirkt beispielsweise recht gezwungen.

Dass bei der Zusammendrängung einer Entwicklung vom Alten Testament bis zur Gegenwart auf weniger als 500 Seiten eine Konzentration auf Wesentliches und Exemplarisches erforderlich ist, versteht sich von selbst. Wendet sich L. mit derselben Gewissenhaftigkeit des Historikers katholischen wie evangelischen Quellen zu, zeigt sich bei deren Auswahl und Gewichtung doch deutlich ein konfessionelles Profil. Während sich ein ganzes Kapitel mit dem Ultramontanismus befasst, finden z. B. Pietismus und Kulturprotestantismus keine Beachtung. Bei den Bemühungen um die »Bildung der Kinder mittels Katechismus« (231) in der frühen Neuzeit werden Luthers Katechismen nur beiläufig erwähnt. Ausführlich dargestellt werden ausschließlich katholische Katechismen des 16. Jh.s (P. Canisius, J. Bonifacius).

Das Fehlen einschlägiger Untersuchungen, an die angeknüpft werden könnte, erklärt die Akzentuierungen wohl nur zum Teil. Damit begründet L., dass er sich innerhalb des Protestantismus des 16. und 17. Jh.s über Luther hinaus allein dem Verständnis von Kindheit und Gotteskindschaft bei den Quäkern zuwenden konnte (261). Diese Teiluntersuchung stellt die Keimzelle des gesamten Unternehmens dar (5).

Anders gewendet lässt sich feststellen: Die konfessionelle Fokussierung erschließt der evangelischen Theologie Traditionen, die ihr weniger zugänglich sind, und regt sie dazu an, etwaige Lücken durch eigene Forschungen zu schließen. L. legt ein Buch vor, das über die Kirchengeschichte hinaus für die sich in allen Disziplinen allmählich formierende theologische Kindheitsforschung zahlreiche gewinnbringende Einsichten bereithält.