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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1176–1178

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Holtz, Sabine, Betsch, Gerhard, u. Eberhard Zwink [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oetingers (1702­1782).

Verlag:

Hrsg. in Verbindung m. d. Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen. Stuttgart: Steiner 2005. VIII, 312 S. m. Abb. gr.8° = Contubernium, 63. Geb. Euro 54,00. ISBN 3-515-08439-8.

Rezensent:

Hermann Ehmer

Anlässlich des 300. Geburtstages von F. C. Oetinger fand im Oktober 2002 in Tübingen eine internationale Tagung statt, deren Referate hier vorgelegt werden. Diese befassen sich mit dem wissenschaftlichen Umfeld des württembergischen Theosophen und den bildungsmäßigen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen seines Denkens. Konkret geht es um die Frage, welche Ausbildung Oetinger seinerzeit an der Universität Tübingen genossen hat, ferner um den Stand der Wissenschaften, mit denen er sich auseinandersetzte, vornehmlich der Mathesis, der Naturphilosophie und den Arkanwissenschaften.

Mit seinem einleitenden Beitrag bietet Martin Weyer-Menkhoff ein Gesamtbild des Universalgelehrten, den er als Gottes- und Naturforscher charakterisiert. Sonja-Maria Bauer stellt das Studium an der Philosophischen Fakultät der Tübinger Universität dar, deren Studiengang damals noch alle Theologen bis zur Erlangung der Magisterwürde zu durchlaufen hatten. Die ursprüngliche propädeutische Funktion dieses Studiums fing damals schon an, zu Gunsten neuer Inhalte, insbesondere aufklärerischer Themen, wie der Naturrechtslehre und historischen Teilwissenschaften, zurückzutreten. Somit fiel gerade Oetingers Studium in eine Zeit des Umbruchs an dieser Fakultät.

Einer der maßgeblichen Professoren an der Tübinger Philosophischen Fakultät war Johann Conrad Creiling (1676­1752), über den Gerhard Betsch berichtet. Creiling war Schüler von Jakob I. Bernoulli und brachte die neuen mathematischen Wissenschaften nach Tübingen. Aus seiner Schule gingen wichtige Mitglieder der Petersburger Akademie hervor, wie Georg Bernhard Bilfinger, Johann Georg Gmelin und Georg Wolfgang Krafft.

Die Mathematik der Aufklärung mit ihren bedeutenden Vertretern Christian Wolff und Abraham Gotthelf Kästner, die beide durch viel benutzte Lehrbücher hervortraten, wird von Karin Reich dargestellt. Ein bedeutender Schüler Wolffs war Bilfinger, der ­ ursprünglich Theologe ­ ein gründliches mathematisches Studium absolvierte. Bilfinger hat auch ­ im Gegensatz zu Oetinger ­ die Leibniz-Wolffsche Philosophie vertreten und weiterentwickelt.

Zwei weitere Beiträge widmen sich speziellen Fächern der Mathesis. Mit der sogenannten Variationsrechnung und ihrer Bedeutung für das teleologische Denken im 18. Jh. befasst sich Rüdiger Thiele. Der Beitrag von Daniel Hohrath stellt Georg Bernhard Bilfinger als Fachmann für den Festungsbau dar. Diese Kunst wurde damals als angewandte Mathematik oder Geometrie betrieben.

Den aus dem Wissenschaftssystem der Artes bekannten Zusammenhang der mathematischen Wissenschaften mit der Musiktheorie verkörpert der Oetinger-Schüler Johann Ludwig Fricker (1729­1766), der spekulativ eine emblematische Musiktheorie entwickelte, mit der sich Herbert Henck beschäftigt. Fricker war zugleich Naturbeobachter und interessierte sich mit Oetinger für das Phänomen der Elektrizität. Dieses Interesse teilten Fricker und Oetinger mit dem mährischen Augustinerchorherren Prokop Divisch/Divis (1698­1765), über den Josef Smolka und Josef Haubelt berichten. Fricker vermittelte die Verbindung Oetingers mit Divis; beide veröffentlichten eine Zusammenfassung der Schriften des Letzteren, womit die habsburgische Zensur umgangen wurde.

Das speziell theologische Interesse Oetingers galt unter anderem der jüdischen Kabbala und den Schriften von Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg. Das bedeutendste Zeugnis für die christliche Rezeption der Kabbala in Württemberg ist die »Turris Antonia«, die 1673 eingeweihte Lehrtafel der Prinzessin Antonia in der Kirche in Teinach im Schwarzwald. Diesem Bildwerk liegt die kabbalistische Sephirotlehre zu Grunde. Nach der Darstellung von Eva Johanna Schauer deutete Oetinger, der eine eigene Schrift über die Lehrtafel veröffentlichte, von dieser angeregt die obersten drei Sephirot auf die Trinität und entwickelte daraus eine Gotteslehre. Darüber hinaus hat Oetinger offenbar auch die in diesem Bildwerk enthaltenen Elemente einer weiblichen Frömmigkeit positiv aufgenommen.

Mit seinem Interesse für Böhme und Swedenborg stellte sich Oetinger außerhalb der damals herrschenden kirchlichen Lehre. Die Lektüre der Schriften der beiden Autoren wurde insbesondere Studierenden mehrfach verboten. Mit Oetingers Verhältnis zu Böhme hat sich Pierre Deghaye befasst. Es geht ihm dabei um eine systematisierende Darstellung von Oetingers Theologie unter dem Einfluss von Böhme, vor allem im Blick auf Schöpfung und Offenbarung, die in einem doppelten Sinne gesehen werden. Oetingers Verhältnis zu Swedenborg wird von Eberhard Zwink dargestellt, wobei besonders auf dessen Entwicklung vom rationalistischen Philosophen zum visionären Theologen und auf den Eindruck dieser Wandlung auf Oetinger Bedacht genommen wird. Der Emblematik Oetingers ist der Beitrag von Tonino Griffero gewidmet. Demnach hat bei Oetinger das Emblem als Bild nicht einfach Verweischarakter, sondern ist der Sinn selbst. Die Voraussetzung des gesamten Seins ist daher der Realismus, das irdische Sein hat somit positive Funktion. Dem entspricht, dass die Heilige Schrift das Wort Gottes zur Hauptsache hat, das jedem Emblem zu Grunde liegt. Oetinger erweist sich damit als origineller lutherischer Theologe, der Chemie und Theologie in seiner alchemistischen Auslegung zusammenbringt, aber damit Gottes Offenbarung im Wort ernst nimmt.

Die beiden letzten Beiträge des Bandes sind biographisch ausgerichtet. Reinhard Breymayer deutet die berufliche Entscheidung Oetingers zwischen der Jurisprudenz, wie es seine Mutter wünschte, und der Theologie, wie es der Vater wollte, als Kampf zwischen Christian Thomasius und August Hermann Francke. Der Letztere hatte Oetinger 1717 und 1718 bei seinen Besuchen der Klosterschule Blaubeuren beeindruckt, worauf Oetingers Entscheidung schließlich für die Theologie ausfiel. Der Beitrag von Roman Janssen geht auf eine Exkursion der Tagungsteilnehmer nach Herrenberg zurück, wo Oetinger 1759­65 seine literarisch wohl produktivste Zeit verbracht hat. Janssen geht nicht nur Oetingers Herrenberger Produktion nach, sondern bietet auf der Grundlage profunder Quellenarbeit auch ein Bild von Oetingers Tätigkeit als Spezialsuperintendent, d. h. als erstem Pfarrer der Stadt und zugleich Vorgesetztem der Pfarrer des Amtsbezirks.

Der Band dokumentiert eine überaus umsichtig angelegte Tagung, die wichtige Quellen zu Genese des Oetingerschen Denkens freigelegt und zentrale Themen seiner Theosophie dargestellt hat. In ihrer Zusammenfassung stellen die hier versammelten Arbeiten nicht nur einen bedeutsamen Beitrag zum Verständnis Oetingers dar, sondern vermögen darüber hinaus einen wichtigen Schnittpunkt von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung zu erhellen, wozu auch zahlreiche, gut ausgewählte Illustrationen beitragen.