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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1174–1176

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Schulz, Günther, Schröder, Gisela-A., u. Timm C. Richter:

Titel/Untertitel:

Bolschewistische Herrschaft und Orthodoxe Kirche in Rußland. Das Landeskonzil 1917/1918. Quellen und Analysen.

Verlag:

Münster: LIT 2005. 4, V, 802 S. gr.8° = Theologie, 4. Geb. Euro 79,90. ISBN 3-8258-6286-0.

Rezensent:

Hans-Dieter Döpmann

Das Werk widmet sich einem herausragenden Höhepunkt in der Entwicklung der Russischen Orthodoxen Kirche: dem erstmals nach mehr als 200 Jahren ­ seit der Abschaffung des Patriarchats 1721 unter Peter d. Gr. ­ nach dem Sturz der Romanov-Dynastie ermöglichten Landeskonzil, das in Moskau von August 1917 bis September 1918 tagte. Einerseits erwies es sich, im Aufgreifen seit langem geäußerter Anregungen, als ein einmaliges Reformkonzil. Andererseits stand es im Zeichen der Oktoberrevolution und damit der tiefgreifenden Veränderungen und Beeinträchtigungen des kirchlichen Leben. Der für die Folgezeit wirksamste Konzilsbeschluss blieb die Wiedererrichtung des Patriarchats. Die zur lebendigeren Gestaltung des kirchlichen Lebens gefassten übrigen Beschlüsse konnten unter der Sowjetherrschaft nicht mehr realisiert werden, gerieten gleichsam in Vergessenheit, zumal die erarbeiteten Materialien kaum mehr zugänglich waren.

Der Rezensent hatte bereits Anfang der 70er Jahre mit einer Sondergenehmigung in Moskau die Möglichkeit, die Akten (Dejanija) des Konzils einzusehen und einige Erkenntnisse zu publizieren. Aber erst mit dem im März 1997 von der Volkswagenstiftung im Rahmen des umfangreichen Forschungsprogramms »Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts« gewährten langjährigen Forschungsprojekt war es G. Schulz in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern möglich, das gesamte Aktenmaterial zu bearbeiten und durch den erst nach der Wende möglichen Zugang zu drei großen Archiven Moskaus die Begleitumstände gründlich zu recherchieren. Die vorliegende Darstellung basiert auf der intensiven Arbeit in diesen Archiven. Ein großer Teil der Quellen wird erstmals in deutscher Übersetzung oder überhaupt zum ersten Mal publiziert. So erschien als ein wichtiges Ergebnis der Quellenforschung die von A. G. Kraveckij und G. Schulz besorgte russische Ausgabe der Materialien der dritten Session des Landeskonzils, Moskau 2000, 430 S. und Illustrationen.

Eine Reihe wesentlicher Aspekte hatte G. Schulz bereits in seiner Monographie behandelt: Das Landeskonzil der Orthodoxen Kirche in Rußland 1917/18 ­ ein unbekanntes Reformpotential. Archivbestände und Editionen, Struktur und Arbeitsweise, Einberufung und Verlauf, Verabschiedung der neuen Gemeindeordnung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, 212 S. (= Kirche im Osten. Monographienreihe, 23).

Die jetzt vorliegende umfassende Darstellung veranschaulicht, wie das Konzil in intensiver Arbeit ein Reformprogramm für fast alle Bereiche des kirchlichen Lebens entwarf. Es beschloss nicht nur die Wiedererrichtung des 1721 abgeschafften Patriarchats. Es verstand sich als Garant der »Selbstverwaltung und Selbstbestimmung« der Orthodoxen Kirche. Über die Bemühungen des Konzils wird realistisch gesagt: »Es nutzte die kurze Chance, sich und die Kirche nach dem Sturz der Romanov-Dynastie von zaristischer Bevormundung zu befreien, sensibel und energisch.« An den Wahlen der Konzilsteilnehmer nahmen erstmals in Russland gleichberechtigt die Frauen teil. Man erarbeitete eine provisorische Gemeindeordnung, »die geradezu in Analogie zu den Sowjets autonome Kirchengemeinden und Kirchengemeinderäte schuf« (1).

Dabei steht die vorgelegte Untersuchung ganz im Zeichen der damaligen Auseinandersetzungen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft in der Russischen Revolution, also zentraler Ereignisse der russischen und europäischen Geschichte des 20. Jh.s, und vermittelt in der Art der Darstellung einer Fülle von Einzelmomenten durchaus differenzierte neue Einsichten. Geboten wird ein Überblick über die Editionen der »Dejanija« (»Sitzungsakten«), über Materialien in den staatlichen Archiven. Im Einzelnen wird gezeigt, wie 20 Kommissionen sich allen Problemen des kirchlichen Lebens widmeten. Angesichts der gebotenen Reichhaltigkeit kann hier nur auf einzelne Hauptkapitel verwiesen werden.

Timm C. Richter erarbeitet eine thematische Übersicht über Arbeit und Beschlüsse des Landeskonzils, immer im Blick auf den gesellschaftlichen Umbruch, die beginnende bolschewistische Herrschaft.

G. Schulz behandelt die Auseinandersetzung um das Dekret des Rates der Volkskommissare über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche vom 23. Januar 1917, schildert detailliert die sehr unterschiedlichen Reaktionen der Konzilsteilnehmer auf dessen vier Entwürfe sowie die Endfassung. Die Grundsatzdebatte des Landeskonzils über das Verhältnis der Kirche zum Trennungsdekret und zur »neuen Macht« wird veranschaulicht, die Hoffnung auf ein baldiges Ende der bolschewistischen Macht und das Kommen eines »christlichen Staates«, Verordnungen des neuen Patriarchen und des Heiligen Synod über die Tätigkeit der kirchlichen Verwaltung unter den neuen Bedingungen, offizielle Dialoge mit den Vertretern der Kerenskij-Regierung sowie der bolschewistischen Behörden, auch die Auseinandersetzung um die Instruktion des Volkskommissariats für Justiz vom 24. August 1918.

In einem weiteren Kapitel befasst sich G. Schulz mit Fragen der Realisierung des Trennungsdekrets. Jeder Einseitigkeit wehrend, behandelt er die ganz unterschiedlichen Stellungnahmen, wie: »Aber dieses Dekret trug, vom Verlust der Rechte der juristischen Person abgesehen, auch Züge eines Aktes der Befreiung, dessen Möglichkeiten und Herausforderungen bald der Patriarch und vor allem die Bischöfe von Solovki (1926) klar erkannten und unbeirrt einklagten« (170). Er schildert weiterhin den Wechsel von Zeiten der Verfolgung mit Zeiten der Tolerierung, Atempausen, die für das Überleben von Kirchen und Religionen in Russland lebenswichtig waren.

G. Schröder beschreibt sehr anschaulich die Gemeinden und die bolschewistische Diktatur, darunter Proteste gegen das Verbot des Religionsunterrichts, Prozessionen als Form kirchlichen Widerstandes, die Bildung und Wirkung von kirchlichen Vereinen und Bruderschaften. Instruktiv ist ihre Behandlung der Auseinandersetzungen im Konzil um die Beteiligung der Frauen am kirchlichen Leben, darunter die Bemühungen um die Wiedereinführung des Diakoninnenamtes der Alten Kirche, die kirchliche Frauenbildung, die Debatte um das Betreten des Altarraums.

Schließlich widmet sich Timm C. Richter dem Thema Wehrdienst und Gewissensfreiheit ­ Die Entstehung der Roten Armee, darunter Bestimmungen über Befreiung aus religiösen Gründen.

Als Fazit wird schließlich herausgestellt, dass das sich von der Sobornost¹-Konzeption her als Versammlung des aus Laien, Priestern und Hierarchen bestehenden einen Volkes Gottes verstehende Konzil das gesamte Leben der Kirche von der Obersten Leitung bis zur Gemeinde erneuerte und dabei »das Konzept einer staatsunabhängigen, nur ihrem religiösen Auftrag verpflichteten, als autonome gesellschaftliche Kraft konstituierten Kirche« (381) entwarf und verteidigte. Mehr als die Hälfte des Umfangs ist den Anlagen gewidmet: Neben einer Zeittafel werden auf etwa 250 Seiten 120 ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Landeskonzils und zur frühen sowjetischen Kirchenpolitik geboten. Es folgen eine detaillierte Übersicht über die Konzilssitzungen, Kurzbiographien und schließlich ein Verzeichnis der (36) kanonisierten Konzilsmitglieder in zeitlicher Abfolge der Heiligsprechung (ab 1989) nach dem Stand vom Frühjahr 2002, dazu Quellen, Literatur- und Personenverzeichnis.

Sicher lässt sich die eine oder andere der Ausführungen auch kritisch hinterfragen. Aber insgesamt ist durch die reichhaltige, zu eigenem Nach- und Weiterdenken anregende Wiedergabe der Dokumente wie durch die differenzierte Darstellung ein grundlegendes Werk geschaffen worden, das gerade auch im Blick auf die heutige Russisch-Orthodoxe-Kireche weite Verbreitung und eingehendes Studium verdient.