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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1167–1169

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Mori, Ryoko:

Titel/Untertitel:

Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2004. X, 320 S. m. 11 Ktn. gr.8° = Hallesche Forschungen, 14. Geb. Euro 52,00. ISBN 3-484-84014-5 u. 3-931479-52-8.

Rezensent:

Martin H. Jung

In ihrer geschichtswissenschaftlichen Dissertation untersucht und deutet die Vfn. ausgehend von Leipzig den Pietismus zwischen Spener und Francke. Dabei erschließt sie neue Namen und Zusammenhänge und wagt eigene Deutungen. Eindrucksvoll gelingt es ihr zu zeigen, wie sich zunächst von Leipzig und dann von Erfurt aus der Pietismus durch Wohnortverlagerungen seiner Anhänger ausbreitete und ­ da die Pietisten weiter miteinander Kontakt hielten ­ ein überregionales pietistisches Netz entstand. Sie spricht zu Recht von einer »Welle« des Pietismus (9). Ob man allerdings mit der Vfn. von einer »zweiten« Welle des Pietismus sprechen kann, hängt davon ab, ob auch die noch nicht umfassend erforschte, von der Rezeption der Pia desideria insbesondere durch einzelne jüngere Pfarrer geprägte erste Phase des Pietismus den Charakter einer geschlossen heranrollenden, die Umgebung überflutenden Welle hatte. Treffender wäre der Vergleich mit Pilzen, die unabhängig voneinander vielerorts aus dem Boden schossen. Erst nach 1689 wurde der Pietismus, wie die Vfn. selbst zeigt, zu einer wirklichen Bewegung.

Nach einem einleitenden, nur wenig Neues bietenden ersten Teil über die Collegia in Frankfurt und in Leipzig folgen die drei zentralen Kapitel der Untersuchung. Zunächst wird die geographische Ausbreitung der 1689 beginnenden »Welle« gezeigt sowie erklärt und dargestellt, wie die Pietistinnen und Pietisten dieser Generation von einem Streben nach »Vollkommenheit« beherrscht waren oder, leicht modifiziert, von einem Bestreben, vollkommener als andere zu leben. Die rasante Ausbreitung wird ebenso wie diese inhaltliche Füllung der pietistischen Bewegung durch die instabile Wirtschaftslage, durch Angst vor Katastrophen und durch ein verbreitetes Misstrauen gegenüber der Obrigkeit erklärt. Das zweite und das dritte Zentralkapitel wenden sich den ekstatischen Phänomenen dieser Bewegung zu, der »Begeisterung« (Titelstichwort). Zunächst werden die der Forschung nicht unbekannte Rosamunde Juliane von der Asseburg und weitere pietistische Visionärinnen behandelt, danach die wenig bekannten Ringhammer-Pietisten in Halle.

Die Vfn. stellt die These auf, dass »erst« von den »Leipziger Bibelübungen«, nicht schon vom »Pietismus unter Leitung Speners«, die »Initialzündung« zur Ausbreitung pietistischer Konventikel ausgegangen sei (2), und erklärt sogar dezidiert, »dass die Veröffentlichung der Pia Desideria keine weiteren Gruppierungen der Laien hervorbrachte« (14). Existierten also zwischen 1682, dem »Ende der Collegia pietatis in Frankfurt« (9), und 1689 keine pietistischen Konventikel? Diese Sicht ist falsch, denn es gab auch außerhalb Frankfurts und auch nach dem Ende der dortigen Konventikel weiterhin sowohl Pfarrer, die dem Frankfurter Vorbild folgend Konventikel veranstalteten, als auch Laien, die sich zu solchen trafen. Nicht von Pfarrern geleitete Versammlungen sind beispielsweise für Augsburg 1677, für Calw 1685, für Hamburg 1686 und für Bern 1689 bezeugt. Die Beispiele ließen sich bei genauer Durchforstung der einschlägigen Literatur sicherlich mehren.

Aufschlussreiche Einblicke gibt die Vfn. in Ablauf und Häufigkeit der pietistischen Versammlungen, in ihre Struktur und in die Form, in der für sie geworben wurde. Viele Pietisten gehörten nicht nur einem, sondern mehreren Konventikeln an und nahmen beinahe an jedem Tag der Woche an einer Versammlung teil. Durch seelsorgerliche Arbeit, zum Beispiel Krankenbesuche, wurde für die Konventikel geworben.

Die von Leipzig ausgehende Bewegung erreichte die Orte Rochlitz, Eisenach, Berlin, Halberstadt, Dornum, Arnstadt, Muskau, Kelbra, Wurzen, Colditz, und vielfach trafen sich die jungen Pietisten später wieder in Halle. Unter dem Einfluss der Leipziger entstanden auch Konventikel in Quedlinburg, Tennstedt, Jena, Erfurt, Gotha und Altenburg. Bemerkenswert ist die beiläufig in einer Anmerkung mitgeteilte Information, dass der frühe Quedlinburger Pietismus auch im evangelischen Damenstift Fuß gefasst hat: Die Stellvertreterin der Äbtissin und die Kammerdienerin der Äbtissin gehörten dem Quedlinburger Konventikel an (32). Von Erfurt aus wurden Schloßvippach, Weimar, Coburg, Tonndorf, Wollin, Herzberg, Herschdorf, Calbe sowie Pommern, der Harz, Franken und die Niederlausitz »erobert«.

Die Vfn. interessiert sich letztlich aber weniger für die äußeren Entwicklungen als vielmehr für die »Innenwelt« besonders der »einfachen« Pietisten (4), ihre »Selbstwahrnehmungen« (Titelstichwort). Diese will sie durch ihre Hans Medick folgende Methode der »dichten Beschreibung« erschließen (4). Unter Rückgriff auf Visions- und Auditionsberichte sollen die »inneren Ereignisse«, die sich »in der Seele einzelner Pietisten abspielten«, untersucht werden (6). Das von der Vfn. aufgedeckte »pietistische Selbst« (260) wird als »ein freies Individuum« charakterisiert, »das sich niemandem außer Gott unterwirft« (260) und in der »Idee« gründet, »dass wahrer Glaube in die Tat umgesetzt werden müsse und könne« (251).

Etwas versteckt zu Beginn des fünften, ein neues Thema anschneidenden Kapitels werden die »Ergebnisse« des sich über 250 Seiten erstreckenden Untersuchungsweges präsentiert (251 f.). Die Vfn. deutet das von ihr gefundene Material und die von ihr gemachten Beobachtungen und erklärt die geschilderten Bekehrungserlebnisse durch die praktizierte intensive Selbstbeobachtung und das Entdecken der »eigenen Gefühle« (252). Die »Begeisterung bei der Entdeckung der Werke Gottes in sich Selbst [sic!]« habe dann dazu geführt, »dass das innere Movens als Gottes Stimme [...] empfunden wurde« (252). So finden die Visionen und Auditionen eine Begründung. Die im Zusammenhang mit dem Titelstichwort »Weltwahrnehmungen« erörterte »gesellschaftskritische« Wendung der »Extraordinären« erklärt die Vfn. durch den verbreiteten »Argwohn gegenüber den geistlichen und weltlichen Obrigkeiten« (252).

Nach dieser zusammenfassenden Bewertung wird kurz, ohne neue Fakten, aber mit neuen Bewertungen auf den Halleschen Pietismus eingegangen. Auf die Begeisterung folgte die »Ernüchterung« (261). Unter dieses schon im Titel der Untersuchung vorkommende Stichwort stellt die Vfn. den Halleschen Pietismus. Richtig ist seine Charakterisierung als »institutionalisierte Erziehungsbewegung« (255), problematisch dagegen die Rede von einer »neue[n] Orthodoxie« (254) und einer »institutionalisierten Staatsreligion« (2). Die in Halle gelehrten Prinzipien »Selbstverleugnung« (258), »Gehorsamkeit« (258) und »Disziplin« (260) werden nicht religiös, sondern rein weltlich interpretiert und im Kontrast gesehen zu der Relativierung der Sozialhierarchie durch die Wiedergeborenen der zweiten pietistischen Welle. Diese Kontrastierung erfolgt jedoch zu undifferenziert. Keineswegs hat der Hallesche Pietismus, dessen Grundlagen, Rahmenbedingungen, Ziele und Wirkungen eigenständig untersucht und erörtert werden müssten, nur »fleißige Arbeiter und gehorsame Untertanen« (262) hervorgebracht. Dem Halleschen Pietismus wird die Vfn. nicht gerecht, aber er war auch nicht ihr eigentlicher Untersuchungsgegenstand.

Außer Acht bleibt in der Studie auch, dass die Phänomene der »Begeisterung«, die die zweite pietistische Welle charakterisierten, außerhalb des Halleschen Pietismus sehr wohl und noch lange weiterlebten, zum Beispiel in den spiritualistischen Kreisen um Johann Friedrich Rock und Ursula Meyer und in den separatistischen Zirkeln um Johann Kayser. Überhaupt kommt in der ganzen Untersuchung, weil sie eindimensional Leipzig zum Ausgangspunkt der Untersuchung des nachspenerschen Pietismus nimmt, nicht vor, dass es gleichzeitig auch andernorts Fortwirkungen der von Spener ausgegangenen Impulse in unterschiedlichster Form gab. Sicher waren diese Dinge der Vfn. nicht unbekannt, aber in der Studie wird nicht explizit darauf verwiesen, sondern der Eindruck erweckt, dass die Entwicklung von Spener über die »zweite Welle« geradlinig zum Halleschen Pietismus und damit zur »Ernüchterung« führte.

Am Schluss des Buches steht etwas losgelöst vom Vorherigen eine weitere Einzelfalluntersuchung, nämlich das Schicksal des Leipziger Pietisten Julius Franz Pfeiffer, eines frühen Francke-Anhängers aus Lauenburg, der sich den halleschen Prinzipien nicht anpasste und dessen Spuren sich 1703 in Quedlinburg verlieren.

Alles in allem liegt ein lesenswertes und anregendes, auch lesbares und in jeder Hinsicht spannendes Buch vor, das mit den vorgenommenen Deutungen und Bewertungen zur Diskussion herausfordert. Das Buch ist mit Karten und Grafiken ausgestattet und es enthält ein Orts- und ein Personenregister.