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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1161–1163

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gantner-Schlee, Hildegard:

Titel/Untertitel:

Hieronymus Annoni 1697­1770. Ein Wegbereiter des Basler Pietismus. Den Einwohnerinnen und Einwohnern von Muttenz gewidmet.

Verlag:

Liestal: Verlag des Kantons Basel-Landschaft 2001. 260 S. m. Abb. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft, 77. Lw. SFr 39,00. ISBN 3-85673-270-5.

Rezensent:

Martin Sallmann

Als »Vater des baslerischen Pietismus« wurde Hieronymus Annoni von Paul Wernle 1923 bezeichnet. Wie der Untertitel des vorliegenden Buches zeigt, ist die Vfn. in dieser Einschätzung zu Recht zurückhaltender. Verdienstvoll hat sie nach beinahe 80 Jahren seit Wernle den umfangreichen Nachlass gesichtet und für eine Biographie aufgearbeitet.

Der Aufbau des Buches orientiert sich am Lebenslauf Annonis, der sich in drei Teile gliedern lässt: Zuerst wirkte Annoni von 1719 bis 1733 als Lehrer und Erzieher bei der Familie Im Thurn in Schaffhausen (29­92). Dann folgte eine Zeit des Übergangs, während der er im Ausland auf Reisen und in Basel nach Orientierung suchte und am Ende 1740 ins Pfarramt eintrat (93­154). Den längsten Lebensabschnitt verbrachte er schließlich in Waldenburg (1740­1747) und in Muttenz (1747­1770) als Pfarrer (155­233). Drei kurze Kapitel behandeln die Herkunft der Familie, die Schul- und Studienzeit sowie die Prägungen von Theologie und Frömmigkeit (22­28). Einleitend skizzieren zwei knappe Kapitel die kirchlichen Zusammenhänge in Basel und die Anfänge des Pietismus in der Schweiz (16­21). Mehrere Verzeichnisse versammeln die Veröffentlichungen Annonis (ohne die Lieder) (237 f.), die handschriftlichen Quellen mit Fundorten und Signaturen (241 f.) sowie die Literatur (243­251). Einen knappen, zweckmäßigen Überblick über den Nachlass und über die Publikationen zu Annoni bietet die Vfn. zu Beginn des Buches (12­15). Zwei Register zu Personen und Orten erschließen das Buch hilfreich (252­258).

Die Stärke der Publikation liegt in der Arbeit an den Quellen. Es entsteht das Bild eines kultivierten Theologen, der leicht Zugang zu den herausragenden Persönlichkeiten der pietistischen Erneuerung in Basel, der Schweiz und Deutschland fand. Das vielschichtige und weitläufige Beziehungsnetz mit bedeutenden, aber auch wenig bekannten Namen wird sichtbar. Die skrupulöse Eigenart verwehrte Annoni lange Zeit den Weg in kirchliche Dienste. Nachdem er in ein Pfarramt gefunden hatte, verband er seine pietistische Frömmigkeit mit seinen Aufgaben in der Kirche. Sowohl in Waldenburg als auch in Muttenz führte er die privaten Zusammenkünfte der Frommen in geordnete Bahnen, so dass diese von der Obrigkeit geduldet wurden. Damit leistete Annoni einen bedeutsamen Beitrag zur Integration der pietistischen Erneuerung in die Basler Kirche. Die Darstellung birgt eine Fülle von aufschlussreichen Hinweisen: Als Lehrer und Pfarrer verfasste Annoni mehrere Schriften, die einen Einblick in seine Vorstellungen einer idealen religiösen Kindererziehung geben. Die pädagogischen Schriften von August Hermann Francke und Jean Frédéric Ostervald dürften als Vorbilder gedient haben (34­41 u. 218 f.). Von den zwei Studienreisen mit Zöglingen sind Aufzeichnungen erhalten, die den Verlauf der Reisen, die Begegnungen mit Persönlichkeiten, Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten, Ereignisse und Kommentare sowie die genauen Aufwendungen festhalten, um sich und seinen Arbeitgebern über die abenteuerlichen Unternehmen Rechenschaft zu geben. Diese reiche Quellenlage gewährt Einblicke in das Netz der Beziehungen, die Vorstellungen von Kultur, Bildung und Religion und in den Alltag der Zeitgenossen (69­88 u. 118­139). Erkrankungen durchziehen wie ein roter Faden das Leben Annonis, der diese auf das Handeln Gottes zurückführte und daher gewissenhaft notierte. Die religiöse Deutung der Krankheit erhielt im Verlauf des Lebens offenbar eine Akzentverschiebung von der Strafe Gottes für begangene Sünden hin zu gnadenvoller Heimsuchungen des Heilands. Der Umgang Annonis mit seiner kränklichen Konstitution verweist deutlich auf die skrupulöse Frömmigkeit (50­52.98­102.180­185 u. passim). Die Sichtung der Quellen bietet auch manche Kuriosität: Zur standesgemäßen Ausrüstung auf Reisen gehörten neben Degen, Büchern, Perücken und Reisebesteck aus Silber auch die Tabakspfeife für den Lehrer (71). Zu den Sehenswürdigkeiten auf den Studienreisen zählten beispielsweise eine angeblich 111-jährige Frau, die sich erst mit 100 Jahren bekehrt hatte, eine Armamputation im Spital oder der Besuch eines Beinhauses, von wo Annoni zwei Totenschädel als Andenken nach Hause brachte (81). Um das »Geläuf« zum Gottesdienst in Muttenz zu stoppen, ordnete der Kleine Rat in Basel die Schließung aller Stadttore am Sonntag bis zum Ende der Gottesdienste an, musste aber den Erlass bereits nach neun Monaten wieder aufheben, weil es zu heftigen Schlägereien mit den Soldaten gekommen war (202­204).

Die Darstellung zeichnet sich durch eine wohltuende Zurückhaltung in wertenden Beurteilungen aus. Leben und Wirken Annonis sollen sich durch die vorhandenen Quellen erschließen. Ein sprechendes Beispiel für dieses Vorgehen spiegelt sich im Inhaltsverzeichnis, das allein Kapitel und Unterkapitel ohne Ordnungsziffern, stattdessen mit vorausgehender Seitenzahl nennt. Wie Kapitel auf Kapitel ohne weitere Gliederung folgt, reihen sich die Umstände, Ereignisse und Begegnungen aneinander. Wie aber sieht das Profil dieser Biographie aus? Gibt es Brüche? Wo sind die Kontinuitäten? Wie sind sie einzuordnen? Diese Einschätzungen bleiben weitgehend dem Leser überlassen, der gerne von der Kennerin der Quellen deutlichere Hinweise auf ihre eigene Bewertung erhalten hätte. Zu Beginn der Schaffhauser Lebensphase hatte Annoni eine Bekehrung erlebt, die sicher nicht den Stellenwert hatte, wie sie im Halleschen Pietismus prägend werden sollte. Annoni blieb auch nach der Bekehrung ein zutiefst angefochtener Mensch. Nach sieben Jahren verließ er Schaffhausen und trat ein Vikariat in Sissach an, wo ihm bald klar wurde, dass er unmöglich in den Dienst der Kirche treten konnte. Nach einigen Monaten kehrte er als Lehrer nach Schaffhausen zurück. Zweifellos war diese pfarramtliche Erfahrung eine Zäsur in Annonis Leben. In welchem Zusammenhang steht sie mit der Bekehrung? Am Ende ging er doch in ein Pfarramt. Wie ist diese Wende mit Blick auf die gesamte Biographie einzuordnen? In welchem Verhältnis steht der Eintritt ins Pfarramt mit dem abgebrochenen Vikariat? Offensichtlich handelte Annoni immer wieder auf äußere Veranlassung: Seine erste kirchliche Anstellung als Vikar suchte er, nachdem sein Arbeitgeber verstorben war. Der endgültige Wegzug aus Schaffhausen war wiederum mit dem Tod seiner Arbeitgeberin verbunden, deren Brüder ihn entlassen hatten. Schließlich waren es Familie und Freunde, die ihn zur Heirat und zur Bewerbung auf Pfarrstellen drängten. Diese passive, zögernde Haltung korrespondiert mit seiner skrupulösen Frömmigkeit.

Das Buch regt zu Fragen an und gibt hoffentlich Impulse für weitere Studien. Annoni begegnete Jean-Alphonse Turretini in Genf, las Literatur von Ostervald, den er in Neuchâtel besuchte, und wurde maßgebend von Samuel Werenfels in Basel beeinflusst. Es stellt sich die Frage, wie stark Annoni von der »vernünftigen Orthodoxie« geprägt war. Andererseits las er intensiv Francke, traf in den Wittgensteiner Grafschaften Separatisten, die eine stille Frömmigkeit in der Zurückgezogenheit pflegten, und begegnete Zinzendorf und den Herrnhutern. Annoni selbst bat um die Entsendung eines Herrnhuter Sendboten nach Basel, geriet später mit den Herrnhutern in Konkurrenz und zählte doch die eifrigsten Mitglieder der Basler Sozietät auch zu seinem Kreis. Es stellt sich die komplexe Frage, welche pietistische Signatur das Leben und Wirken Annonis trägt. Die Vfn. deutet zwar eine Entwicklung seiner Frömmigkeit an (235 f.), doch wie ist diese genauer zu beschreiben? Eine »Hoffnung besserer Zeiten« für die Kirche, ein charakteristisches Merkmal pietistischer Theologie und Frömmigkeit, hegte Annoni offenbar nicht. Weiter laden die reichen Quellen, die während und nach den Studienreisen entstanden sind, zur weiteren Bearbeitung ein. Eine Publikation dazu ist im Theologischen Verlag Zürich angekündigt.

Schließlich sei lediglich eine Unstimmigkeit erwähnt: Das Erste Helvetische Bekenntnis gehört in das Jahr 1536 und nicht­ wie angegeben ­ in das Jahr 1549, aus dem der nicht weniger wichtige Consensus Tigurinus stammt (16).

Die Vfn. sieht in Annoni wesentlich einen Wegbereiter des Pietismus in Basel. Die Herrnhuter ernteten in Basel, was Annoni und seine Anhänger gesät hätten (236). Diese Äußerung macht die Vfn. mit Blick auf die erste Hälfte des 19. Jh.s, in der ein großer Teil der Pfarrerschaft mit der Brüdersozietät verbunden war. Allerdings darf Annoni für die eigene Zeit als ein wesentlicher Exponent und Mitgestalter des Pietismus in Basel und der Schweiz gelten.