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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1154–1156

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Harrison, James R.:

Titel/Untertitel:

Paul¹s Language of Grace in its Graeco-Roman Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XV, 440 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 172. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-148097-X.

Rezensent:

Udo Schnelle

Bei dieser Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation des Vf.s, die 1996 an der School of Ancient History in Sydney angenommen wurde. Seit der grundlegenden Studie von G. P. Wetter, Charis, Leipzig 1913, liegt damit wieder ein Beitrag zu einem Schlüsselterminus paulinischer Theologie vor, der die gesamte Begriffsgeschichte erfasst. Am Anfang der Arbeit steht ein forschungsgeschichtlicher Überblick, der aufzeigt, dass die kulturgeschichtlichen Hintergründe von Charis bisher für das paulinische Verständnis noch nicht genügend erarbeitet wurden. Als Ziel der Studie wird angegeben: »The purpose of this study is to investigate the extent to which Paul interacts with Graeco-Roman benefaction ideology in choosing Charis as his central description of divine and human beneficence« (24). Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht der Vf. zunächst die Rolle von Charis in Inschriften. Bereits hier zeigt sich deutlich, dass Charis verbunden ist mit dem 'ethos of reciprocity', denn der Dank einer privilegierten Stadt zeigte sich z. B. in der Aufstellung von Statuen oder in der Anfertigung von Inschriften, mit und in denen eine Gegenleistung vollzogen wurde. Lokale Herrscher bedankten sich beim römischen Kaiser für dessen Gunst durch üppige Geschenke und/oder die Bereitstellung militärischer Hilfe. Reziprozität kann als ein Grundprinzip der hellenistischen Gesellschaft gelten, wonach die Wohltaten von Patronen und der Dank/Gehorsam der Empfänger selbstverständlich zusammengehören. Der Austausch von Gütern und Leistungen zwischen Menschen von unterschiedlichem Rang und damit verbunden ein Netzwerk von Patronen und Klienten durchzog das öffentliche und private Leben.

Gegenseitige Gunsterweisungen prägten auch das Verhältnis vieler Menschen zu ihren Göttern. Die Verehrung und der Lobpreis der Götter vollzog sich immer in der Erwartung, dass auch sie ihre Gunst gegenüber den Betenden zeigen werden. Besonders für das Selbstverständnis der kaiserlichen Patrone spielte die Charis eine große Rolle, wie Inschriften zu Caligula und Nero zeigen. Bekannt ist vor allem die Rede von Nero an die Griechen im November 67 n. Chr., wo Charis als Attribut des Kaisers mehrfach vorkommt. Als Gegenleistung für die Wohltaten des Nero beschloss das Volk der Hellenen, dem ewigen Kaiser und Befreier, dem Zeus Nero Altäre und Tempel zu widmen. Fazit: »By the first-century AD Charis had become the fundamental leitmotiv of the hellenistic reciprocity system. It was equally applied to each party involved in the benefaction ritual, referring either to the disposal of 'favour' by the benefactor, or the return of 'favour' or 'gratitude' by the beneficiary« (63).

Es schließt sich eine Untersuchung zur Bedeutung von Charis in den Papyri an. Der Begriff ist weit verbreitet. Sowohl in den Papyri des Alltagslebens als auch im Kaiserkult und in den Zauberpapyri spielt die Charis der Götter bzw. des Schicksals eine große Rolle. So werden insbesondere den Göttern der Unterwelt Gaben gebracht und Dank gespendet, in der Hoffnung, dafür dereinst belohnt zu werden. Im Abschnitt über die Rolle von Charis im Judentum des 1. Jh.s n. Chr. setzt sich der Vf. zunächst mit der Konzeption von E. P. Sanders auseinander. Er arbeitet überzeugend die idealtypische Konstruktion von Sanders (und J. D. G. Dunn) heraus, betont, dass für Paulus hier mehr auf dem Spiel steht »than just Jewish exclusivism or boundary markers« (106). Zu Recht betont der Vf., das griechisch sprechende Judentum bzw. Judenchristentum könne nicht abseits der griechisch-römischen Konzeption von Charis im 1. Jh. n. Chr. gesehen werden. Es schließen sich die Analysen von Charis in der LXX, den Apokryphen und Pseudepigraphen sowie Philo und Josephus an. Insbesondere Philo muss auch bei seiner Gnadenlehre im griechisch-römischen Kontext gesehen werden, zugleich stellt Philo aber die voraussetzungslose Gnade des jüdischen Gottes dem System der Gegenseitigkeit im paganen Bereich gegenüber.

Eine große Bedeutung kommt Charis und der Kultur der Gegenseitigkeit auch bei den griechisch-römischen Philosophen zu. Der Vf. setzt bei Aristoteles ein und stellt die Konzeptionen von Plutarch, Cicero, Valerius Maximus, Seneca und Epiktet vor. Bei Epiktet, Dissertationes IV 1, 101­105 wird besonders deutlich, wie stark das Gottesbild mit dem Motiv der Gnade auch in der Philosophie verbunden werden konnte. Gegenüber dem anklagenden und fordernden Menschen verweist Epiktet auf die Gaben der Gottheit, denen der Mensch alles verdankt. Zugleich kritisieren vor allem Epiktet und Musonius die mit dem Ethos der Gegenseitigkeit verbundenen Abhängigkeiten. Auch Seneca kann die Motive für Wohltaten scharf kritisieren, wenn sie auf nichts anderes als Eigennutz hinauslaufen. Insgesamt spielt das Prinzip der Gegenseitigkeit in fast allen philosophischen Systemen eine große Rolle, wonach auch nach griechisch-römischer Überzeugung das korrekte Verhalten von Menschen gegenüber Göttern auf Gegenleistungen hoffen darf. Hier neigt der Vf. ausdrücklich der Vermutung von A. Deissmann zu, dass die paulinische Gnadenlehre nicht nur gegen bestimmte Formen des Judentums, sondern auch gegen pagane Kulte und die Thesen von Philosophen gerichtet war (210).

Ausgangspunkt des Kapitels über den paulinischen Gebrauch von Charis ist die Feststellung, dass die Vorstellung von Wohltaten für die Götter und der Götter ein allgemein gültiges Axiom des 1. Jh.s n. Chr. war. Zunächst wird das Verständnis von Charis im Kontext der Rechtfertigungslehre des Römerbriefes dargestellt. Die entscheidende Neukonzeption gegenüber dem Reziprozitätsschema seiner Umwelt besteht darin, dass Paulus in radikaler Weise einen Anspruch auf Gottes Wohltaten verneint. Niemand ist vor Gott gerecht (Röm 3), und nur Gott allein ist gut (Röm 5,7). Zudem wird die unverdiente Gabe der göttlichen Gerechtigkeit durch einen Gekreuzigten und damit nicht mit Ehre versehenen Wohltäter übergeben. Weil niemand auf Grund seiner Rasse, seines Geschlechtes oder seines sozialen Standes einen Anspruch auf göttliche Wohltaten hat, führt Paulus eine Demokratisierung des Charisma-Verständnisses durch. Nach Ausführungen über das Charisma-Verständnis im vom Vf. für authentisch gehaltenen Epheserbrief schließt sich ein Abschnitt über 2Kor 8 und 9 an. Die Kollekte für Jerusalem wird von Paulus als Ausdruck der Gnade Gottes, als ein Gnadenwerk verstanden, weil sie Ausdruck des Heilswillens Gottes ist (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,1.4.6.7.19; 9,8.14.15). Vorbild für diese Charis ist die Gnade Christi, denn er bewirkte durch seine Armut den Reichtum der Gemeinde (2Kor 8,9). Besonders die Ausführungen über die Kollekte in 2Kor 8/9 und Röm 15,25­28 zeigen, dass Paulus innerhalb seiner Gnadenlehre auch auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Prinzips der Gegenseitigkeit argumentiert: Er bezeichnet die Kollekte ausdrücklich als Charis (vgl. 1Kor 16,3; 2Kor 8,4.7.19) und betont in Röm 15,27 das Reziprozitätsschema: Makedonien und Achaia stehen gegenüber Jerusalem in der Schuld und sind deshalb verpflichtet, die empfangenen Wohltaten auszugleichen. Es findet sich bei Paulus beides; der Apostel kann mit dem Prinzip der gegenseitigen Wohltaten und Verpflichtungen der hellenistischen Gesellschaft argumentieren, zugleich durchbricht er es mit dem 'umsonst' von Röm 3,24 radikal. Gottes Gnadenhandeln ist voraussetzungslos, aber nicht absichtslos. Es orientiert sich nicht an Status-Schemata, sondern ist universal und nicht an gesellschaftliche oder kultische Vollzüge gebunden.

Die Studie überzeugt sowohl von der Methodik als auch vom Ergebnis her. Die vollständige Aufarbeitung des Gebrauchs von Charis im jüdischen und im hellenistischen Bereich lässt erkennen, wie sehr Paulus und seine Gemeinden in den zeitgenössischen Sprachgebrauch und seine kulturellen Rahmenbedingungen eingebunden sind, zugleich aber auch völlig neue Konzepte entwickeln und leben. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn Studien dieser Art auch zu anderen Schlüsselbegriffen paulinischen Denkens angefertigt würden.