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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1135–1138

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Köckert, Matthias:

Titel/Untertitel:

Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Verständnis des Gesetzes im Alten Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 306 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament, 43. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-148415-0.

Rezensent:

Hans-Christoph Schmitt

Der Band enthält Beiträge des Vf.s zum alttestamentlichen Gesetzesverständnis aus den Jahren 1984­2003. Für die Publikation in dem Sammelband sind sie nur formal, nicht aber inhaltlich vereinheitlicht worden. Der Band verdient vor allem als Beitrag zur biblisch-theologischen Grundlegung einer evangelischen Ethik besondere Beachtung. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die abschließende Studie des Bandes (Kapitel 10: »Luthers Auslegung des Dekalogs in seinen Katechismen«, 247­290), die als zentral für Luthers Verständnis der Zehn Gebote »die innere Entsprechung zwischen des Menschen Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen« herausstellt. Hierdurch wird für Luther die Nächstenliebe zum hermeneutischen Prinzip, um den Dekalog auf neue Lebenssituationen anzuwenden. Gleichzeitig sind hier alle Gebote in der Perspektive des Indikativs des ersten Gebotes gesehen, dem es um »die heilsame Unterscheidung zwischen Gott und Mensch« geht (289 f.). Ein entsprechendes Verständnis des Dekalogs stellt der Vf. bereits im Alten Testament fest. Hier sieht er in der Form von Ex 20 gegenüber der von Dtn 5 zu Recht die ältere Fassung. Der Aufbau dieses ursprünglichen Exodus-Dekalogs entfaltet »die ausschließliche Bindung an Gott als antwortende Liebe, die sich im Halten der Gebote gegenüber Gott und den Mitmenschen realisiert« (262). Der Vf. geht dabei davon aus, dass der Dekalog eigens als »Prooemium zum Bundesbuch« von Ex 20,22­23,19 geschaffen wurde (260). In diesem Zusammenhang kommt dem Dekalog mit seiner Tendenz zu situationsübergreifender Verallgemeinerung grundsätzliche hermeneutische Bedeutung für das Verständnis der am Sinai geoffenbarten Gesetze zu, wobei zwischen dem Dekalog als »unwandelbarem Gotteswillen« und dessen »jeweils zeitbedingter Konkretion« (vgl. 18) zu unterscheiden ist.

Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt der Vf. bei der Studie zum Text Lev 19, den er als Kern des traditionell als Heiligkeitsgesetz bezeichneten Abschnittes Lev 17­26 und dabei in ähnlicher Weise wie den Dekalog als »Summe« der Sinaigesetze versteht (Kapitel 5: »Gottesfurcht und Nächstenliebe: Die Zusammenfassung der Willensoffenbarung Gottes am Sinai in Lev 19«, 155­166). Die Studie kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die beiden Hauptteile von Lev 19 (V. 3­18 und V. 19­37) durch eine Reihe von (meist am Wechsel der Anrede erkennbaren) kompositionellen Zusätzen miteinander verbunden werden: In V. 3­18 sind dies vor allem Vers 14b (»du sollst deinen Gott fürchten«) und Vers 18b (»du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«), die beide im zweiten Teil in V. 32b bzw. in V. 33­34 eine unmittelbare Entsprechung besitzen. Diese Zusätze sind somit als ein Lev 19 zusammenfassendes Doppelgebot der Gottesfurcht und der Nächstenliebe zu verstehen.

Den Hauptbestandteil des Sammelbandes bildet Teil I (3­151) mit vier Untersuchungen (Kapitel 1­4), die durch eine bisher unveröffentlichte Einleitung verbunden wurden und unter dem Titel »Leben vor Gott. Studien zum Verständnis des Gesetzes in der deuteronomistischen und priesterlichen Literatur des Alten Testaments« dem Jenaer Habilitationsverfahren des Vf.s von 1990/91 zu Grunde lagen. In diesen Untersuchungen geht es dem Vf. darum, das im Alten Testament bestehende Gegeneinander von »Gesetz und Evangelium« nicht zu relativieren, sondern es vielmehr in seiner Gegensätzlichkeit zu verdeutlichen (vgl. 13).

So leitet sich im Alten Testament einerseits der Gotteswille unmittelbar aus der Heilserfahrung Israels ab, wie der Vf. in Kapitel 1 (»Ein Volk befreiter Brüder: Das Gesetz als Lebensordnung Israels im Deuteronomium«, 21­45) an der Grundschicht des Dtn aufweist: Israel hat das zu bewahren, was es zuvor von seinem Gott empfangen hat. Andererseits enthält das Dtn in seinen dtr und spätdtr Schichten ein gegenüber der Grundschicht deutlich gewandeltes Gesetzesverständnis, mit dem sich Kapitel 2 beschäftigt (»Das nahe Wort: Wandlungen des Gesetzesverständnisses in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur«, 47­72). So kommt es bei den Deuteronomisten zur »Vorordnung des Gesetzes vor die Landgabe«, das dadurch die Funktion erhält (vgl. Dtn 29,23 ff.), aufzudecken, »warum die Katastrophe über Volk und Land und Heiligtum kam« (60). Bei den nomistischen Deuteronomisten (vgl. u. a. Dtn 11,8.22­25; auch Jos 1,7 f.) schließlich wird das Gesetz grundsätzlich zur Bedingung für die Heilserfahrung. Des weiteren findet sich in Dtn 9 aber auch »Kritik an der nomistischen Konzeption« (65), nach der Israel keinerlei Qualitäten hat, die als Erfüllung der Einlassbedingungen ins Land gelten könnten. Hieran knüpfen dann die spätdtr Verheißungen in Dtn 30,6 an, die die Möglichkeit der Erneuerung des Menschen daran binden, dass Jahwe das menschliche Herz beschneidet (vgl. die ähnliche Vorstellung in Jer 31,31­34).

Eine ähnlich komplexe Entwicklung des Gesetzesverständnisses kann der Vf. in Kapitel 3 (»Leben in Gottes Gegenwart: Wandlungen des Gesetzesverständnisses in der priesterlichen Komposition des Pentateuch«, 73­107) auch für die priesterlichen Texte des Pentateuch aufzeigen. So wird in der priesterlichen Grundschicht des Berichts vom Abraham-Bund in Gen 17,1­11* die Vorordnung der Verheißung durchgängig gewahrt: Alle von Israel geforderten Handlungen sind hier nur auf Gottes Setzung des Bundes antwortendes Tun, wobei das Beschneidungsgebot bloß als »Zeichen« des Bundes dient. Demgegenüber wird dann in einer späteren Schicht in 17,12a.13b mit ihrer Rede von der »ewigen Verpflichtung der Beschneidung« der unverbrüchlichen Verheißung Gottes »die Beschneidung als ebenso unverbrüchliche Verpflichtung Israels« auf einer gleichrangigen Stufe gegenübergestellt (86). In V. 14 schließlich verwandelt sich die Beschneidung vom Zeichen der Verheißung Gottes endgültig »in ein unter Strafandrohung gestelltes Gesetz« (88). Entsprechende Entwicklungen wie beim Beschneidungsgebot sind nun auch beim priesterlichen Passa-, Sabbat- und Heiligtumsgesetz festzustellen, wie die weiteren Abschnitte von Kapitel 3 herausarbeiten.

Schließlich weist Kapitel 4 (»Ein Palast in der Zeit: Wandlungen im Verständnis des Sabbatgebotes«, 109­151) entsprechende Entwicklungen auch bei den nichtpriesterlichen Formulierungen des Sabbatgebotes und dabei vor allem bei denen der beiden Dekalogfassungen von Ex 20 und Dtn 5 nach. Auch hier kommt es schließlich zu der gesetzlichen Vorstellung von der Sabbatheiligung als Bedingung für die Teilhabe am Heil (Jer 17,19­27; Jes 56,2.3­8; 58,13­14).

Des weiteren behandelt das gemeinsam mit Heidelore Köckert verfasste Kapitel 9 (»Ungeborenes Leben: Wandlungen im Verständnis des Rechtssatzes Ex 21,22­25«) den sich auf die Schädigung einer Schwangeren beziehenden Rechtssatz Ex 21,22­25, wobei die Vf. einen sehr instruktiven Überblick über die entsprechenden Bestimmungen des altorientalischen Rechts und über die Rahmenbedingungen der Neuinterpretation dieses Rechtssatzes in der Septuaginta (Geldstrafe bei noch nicht ausgebildetem Foetus, Todessanktion bei ausgebildetem Foetus) geben. Bei der Auslegung des hebräischen Textes bleibt die Studie bei der herrschenden Auffassung, dass die Talionsforderung sich nicht auf die Fehlgeburt, sondern nur auf eine Schädigung der Schwangeren beziehen kann. Dies fügt sich zwar gut in das altorientalische Recht ein, nach dem das Herbeiführen einer Fehlgeburt im Allgemeinen durch eine bloße Entschädigungszahlung abgegolten wird (vgl. allerdings die Ausnahmen in den mittelassyrischen Gesetzen § 50 und §53 [TUAT I,91]), dennoch überzeugt die Deutung des hebräischen Textes durch den Vf. nur teilweise (schade, dass sich der Vf. nicht mit der abweichenden Interpretation von A. Kunz in ZAW 111 [1999], 577­582, auseinandergesetzt hat).

Auf Grund der zentralen Bedeutung des »Gesetzes« für die Entstehung des Pentateuch sind dem Band gleichzeitig wichtige Erkenntnisse zur Literargeschichte des Pentateuch zu entnehmen. Besonders gilt dies für den Aufsatz »Wie kam das Gesetz an den Sinai?«, der als Kapitel 6 (167­181) in das Buch aufgenommen wurde. Hier vertritt der Vf. die Ansicht, dass das erste Gesetzeswerk, das in den Zusammenhang der Sinaiperikope eingestellt wurde, das Bundesbuch war, als dessen Einleitung Ex 20,18.21b.22a.24­26* anzusehen sei. Später wurde dann der Dekalog, der ursprünglich mit Ex 19,20­21a· eingeführt wurde, als Zusammenfassung und hermeneutischer Schlüssel vor das Bundesbuch gesetzt. Noch später sei dann Ex 34 »aus Material des Bundesbuches für den neuen Kontext und mit ausdrücklicher Rücksicht auf ihn gebildet worden« (180). Überzeugend arbeitet der Vf. dabei die zahlreichen Abhängigkeiten heraus, die Ex 34 in Hinblick auf das Bundesbuch, das Deuteronomium und den Dekalog aufweist. Nicht hinreichend begründet wird dagegen, weshalb der Dekalog als verallgemeinernde Zusammenfassung des Bundesbuches entstanden sein soll. Die bisherige Forschung hat m. E. ebenso starke Bezüge des Dekalogs zum deuteronomischen Gesetz wie zum Bundesbuch herausgearbeitet. Außerdem dürfte ein Großteil der einzelnen Dekaloggebote auf vorgegebene Kurzreihen zurückgehen. So spricht doch mehr dafür, dass der Dekalog als »Summe« verschiedener Rechtsüberlieferungen entstanden ist und erst durch die nachpriesterliche Redaktion (vgl. Ex 20,11) in die Sinaiperikope eingefügt wurde. Wenig wahrscheinlich ist auch die Annahme, dass das Bundesbuch bereits vorexilisch »an den Sinai kam«. Seine Einleitung 20,22­23 deutet vielmehr auf eine erst spätdtr Aufnahme in den vorliegenden Zusammenhang. Auch ist keineswegs sicher, dass auf 20,18­21* unbedingt eine Gesetzesoffenbarung folgen muss. So anregend die Thesen des Vf.s sind, so bleiben doch auch bei ihnen mehr Fragen offen, als sie lösen. Vor allem wird bei der Analyse von Ex 19­24 der vom Vf. ansonsten durchaus wahrgenommene Einfluss prophetischer Traditionen auf den Pentateuch zu wenig Beachtung geschenkt.

Das besondere Verdienst der in Kapitel 7 (»Das Gesetz und die Propheten in Am 1­2«, 183­193) und in Kapitel 8 (»Zum literargeschichtlichen Ort des Prophetengesetzes Dtn 18 zwischen dem Jeremiabuch und Dtn 13«, 195­215) aufgenommenen Studien liegt nämlich gerade in der Herausarbeitung dieser Zusammenhänge von Pentateuch und prophetischer Überlieferung. So hat der Vf. hier enge Beziehungen zwischen Dtn 13; 18; 34 einerseits und Jer 1; 13; 26; Am 2 andererseits in überzeugender Weise wahrscheinlich gemacht.

Ein Nachweis der Erstveröffentlichung der aufgenommenen Studien (291­292), ein Bibelstellenindex (293­301) und ein Autorenregister ermöglichen eine gute Erschließung des Sammelbandes, der neben wichtigen Beiträgen zur Frage nach dem Zentrum des alttestamentlichen Gesetzesverständnisses vor allem auch beachtenswerte Beobachtungen zur Literargeschichte des Pentateuch und zur Theologie seiner literarischen Schichten enthält.