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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1125–1127

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

DiTommaso, Lorenzo:

Titel/Untertitel:

The Book of Daniel and the Apocryphal Daniel Literature.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2005. XX, 547 S. gr.8° = Studia in Veteris Testamenti Pseudepigrapha, 20. Geb. Euro 125,00. ISBN 90-04-14412-9.

Rezensent:

Klaus Koch

Der Vf. bezeichnet sein mit großem Spürsinn und immensem Sammeleifer verfasstes Werk als »first attempt to identify ... the complete body of texts« (15). Denn was unter dem Namen Daniel niedergeschrieben worden ist, »exists in more numbers than any other corpus of apocryphal literature«, hatte »the rare ability to transcend easily the boundaries of language, culture and confession« (311) und fand durch viele Jahrhunderte nicht nur zahlreiche christliche und jüdische, sondern auch islamische Verfasser und Leser.

Ch. One: The apocryphal Daniel Literature: Parameter of the Study (1­38). Die antiken und mittelalterlichen Handschriften beschränken sich auf drei Themen: Legenden, Apokalypsen und Prognostika (Voraussagen von kollektivem und individuellem Schicksal). Stets wird ein kanonisches Danielbuch als bekannt vorausgesetzt, als »the sun around which the planets of Daniel apocrypha coalesced« (5).

Ch. Two: The Story of Daniel in the Book of Daniel and in the Daniel Legenda (39­86) fasst zuerst den Inhalt von Dan 2­7 MT zusammen und führt ihn auf eine ältere selbständige Fünf-Kapitel-Schrift zurück; sie war wie später die redaktionelle MT-Endstufe »part of a broad cycle of Hellenistic-era Hebrew, Aramaic, and Greek writings ... associated with Daniel«, »one stage ... of an ongoing und frequently overlapping process wherein the story of Daniel was told and, in the telling, employed as a vehicle to relate various messages« (48 f.).

Die Legenden sind Hoferzählungen über Daniel (in 3. Pers.) mit Beispielen standhaften Glaubens. Gern wird Daniels Jugend zum Thema, so schon in dem ­ vom Vf. als nachträglicher Vorbau angesehenen ­ Kapitel 1, dann in der Susanna-Erzählung in LXX und Theod. als »earliest extra (sic!) -biblical example« (59), schließlich in späteren Werken. Chronologische inconsistencies im MT werden auszugleichen versucht, z. B. im Blick auf Darius als Meder oder als Perser oder in der Sukzession von vier Weltreichen (74). Bisweilen wird eine Reise Daniels nach Jerusalem mit Rückführung der von den Babyloniern deportierten Tempelgeräte erzählt, häufig sein Tod und Begräbnis, entweder in Susa oder im eigentlichen Persien (76). ­ Ein frühes Beispiel für Ergänzungen bietet um 100 v. Chr. »the fourteen-chapter LXX-Daniel« als »reworking of MT« (81).

Es verwundert, dass die Legenda als »apocryphal« eingestuft werden. Dieser Begriff bezeichnet seit der Alten Kirche Schriften, deren kanonischer Rang umstritten ist; als »verborgene« haben Rabbinat oder Großkirche sie aus dem gottesdienstlichen Gebrauch ausgeschlossen. Die Legenden, die von Daniel in 3. Person erzählen, waren aber meines Wissens nirgends mit kanonischem Anspruch verbunden.

Ch. Three: The Apocryphal Daniel Apocalypses (87­230) behandelt 24 Apokalypsen (aramäisch, griechisch, syrisch, slawisch, hebräisch, arabisch, koptisch, armenisch, persisch), von denen die meisten der Wissenschaft bislang unbekannt waren (91.9324). »The number of apocalypses attributed to Daniel far outstrips the combined total number of apocalypses and apocalyptic literature« (220). Entsprechend dem »historical type« einer Apokalypse (105­107.202) schildern sie nicht nur das eschatologische Gericht und die Neuschöpfung, sondern ­ meist ausführlicher ­ die dahin führenden geschichtlichen, vor allem politischen Bewegungen. Sie stammen weit mehr aus dem ost- als dem westmediterranen Raum (312 ).

Jeder Apokalypse wird ein eigener Abschnitt gewidmet (97­195). Verzeichnet werden die Sekundärliteratur sowie die (zum Teil unterschiedlichen) Ansetzungen von Entstehungszeit und -ort; danach wird der Inhalt skizziert. Eine Tabelle (198) informiert über »recollection of the past« und »Ex eventu prophecy« neben der »persecution« und den »eschatological upheavels«. Ihre »basic message is that God controls the broad process of history«, und sie sehen »the present state of affairs historically and eschatologically coherent« (197.215 f.) und bieten ein »constant updating, an ongoing response to historical crises«; der Rückblick auf die Vergangenheit und die neue Offenbarung über die Zukunft »provided a ready empirical verification« (222; vgl. 216532). »The majority of the Byzantine Greek Daniel apocalypses are adressed to Christians afflicted by the Arab Muslim invasion« (197460), innerbyzantinische Auseinandersetzungen (z. B. mit Arianern) tauchen in vaticinium ex eventu auf. Die These, dass alle pseudodanielischen Apokalypsen auf eine einzige Vorlage zurückgehen (227­230), weist D. entschieden ab (227­230).

Ein Exkurs berücksichtigt die Pseudo-Daniel-Texte aus Qumran, die insofern historical sind, als sie einen Bogen von der Urzeit bis zur hellenistischen Epoche und der eschatologischen Endphase spannen. Mit späteren Danielapokalypsen haben sie keine Verwandtschaft (207­209).

Obwohl der Vf. die Daniel-Apokalypsen als historical einordnet, als Aktualisierungen des kanonischen Buches zur Zeit einer schweren Krise in der Natur oder Gesellschaft, geht er auf zeitgenössische Verhältnisse und das daraus entstandene Bedürfnis nach neuer Offenbarung nicht näher ein. Die Autoren setzen voraus, dass sie im Zeitalter des vierten, letzten Weltreichs (nach Dan 2; 7) leben, beherrscht von der »Siebenhügeligen« (Rom oder Byzanz). Während aber nach MT und LXX das Reich Gottes und des Menschensohns dem jähen Zusammenbruch des 4. Reiches unmittelbar zu folgen scheint, beschäftigt die Späteren eine Parusieverzögerung. Deshalb wird Daniels Botschaft durch vaticinia ex eventu erweitert. Ein »blondes Geschlecht« oder (germanische und slawische?) »Völker des Nordens« als Gog und Magog (Ez 38 f.) bedrohen das Reich, später »Ismael« (die Araber nach Gen 16,11 f.). Gott lässt die Weltgeschichte zunächst mit ähnlichen politischen und sozialen Institutionen wie bisher weiterlaufen, aber mit entsetzlichen Katastrophen in der Völkerwelt und der Natur. Erst in weiterer Zukunft erscheint ein »Sohn des Verderbens« als Antichrist, triumphiert auf Erden und wird im Weltgericht gestürzt. Schließlich wird nach der Parusie des Menschensohns der neue Aion einsetzen; aber darüber verlautet weniger als über die noch ausstehende irdische Zukunft.

Ch. Four: The Daniel Prognostica (231­307): Unter dem Namen Daniel waren im Mittelalter im Westen das Somniale, ein Leitfaden zur Traumdeutung, und Lunationes, Voraussagen nach den Tagen des Mondlaufs, sehr verbreitet (über 150 bzw. über 250 MSS). Im ersten werden Traumerlebnisse über seltsames Verhalten von Tieren, Pflanzen und anorganischen Gegenständen als Anzeichen des individuellen Schicksals gedeutet. Die Lunationen künden günstige oder ungünstige Monatstage für bestimmte Geschehnisse an, z. B. Geburtsdaten.Die aus dem griechischen Osten stammenden Praedictiones (13 Mal nachweisbar), »almost completely unknown«, sammeln Vorhersagen auf Grund der Beobachtung bestimmter Phänomene, nach Regeln, die schon antike Schriftsteller vorausgesetzt haben. »The most important and possibly the oldest« ist die Malhamat [»Vorhersage«] Daniyal (arabisch, syrisch, persisch). Sie reiht Weissagungen über das Geschick von Einzelnen, gelegentlich auch von Königen, aneinander. Eine verwandte Gattung sind geomantische Schriften (arabisch, syrisch, persisch, armenisch), die aus »figures, and lines or geographic features« Künftiges ableiten; sie sind bislang weder ediert noch übersetzt worden. Ein Sonderfall ist das »Buch der Zahlenkunde« (kitab al-Jafar), das einem »älteren«Daniel aus der Zeit zwischen Adam und Noah zugeschrieben wird (296).

Ch. Five fasst auf sieben Seiten Observations and Conclusions zusammen und betont, dass das Buch »some of groundwork for ... future endeavours« bereitstellt (308­315).

Ch. Six: The Apocryphal Daniel: Inventory and Bibliography (316­508) ordnet die MSS nach 16 Sprachen. Zu jeder Schrift werden die vorhandenen Handschriften mit Aufbewahrungsort, Codex- und Folionummer, mit Angabe der Textausgabe(n) und Übersetzungen, Zusammenfassung des Inhalts sowie der Auxiliary und Secondary Studies verzeichnet.

Auf die Jerachmeel-Chronik, die den MT-Daniel mit seinen aramäischen Kapiteln auf Hebräisch nacherzählt, verweist der Vf. mehrfach. Doch dessen aus einer eigenen Quelle stammende aramäische Stücke mit dem Gebet Asarjas, dem Hymnus der drei Männer im Feuerofen sowie der Legende Bel und der Drache, deren Text mit dem von LXX und Theod. nicht übereinstimmt, fehlen im Inventory unter den aramäischen Texten (318­330).

Das vorliegende Werk hat eine erhebliche Bedeutung für den Begriff des Kanons, der gegenwärtig oft diskutiert wird. Zumindest einige der im »Ich« Daniels verfassten Apokalypsen waren als gleichrangige Ergänzung zu MT oder LXX verfasst und unter die Heiligen Schriften aufgenommen worden, so gewiss die armenische 7., die koptische (auch arabische) 14., wahrscheinlich die griechische Letzte Vision Daniels und die syrische Schrift Vom Jungen Daniel (zwischen Sus und EpJer eingeordnet). Das unterstreicht D.s Ergebnis, dass »MT Daniel simply represents one stage ... of an ongoing process« (219), und hat theologische Relevanz. Anscheinend führt ein »weicher Kanonsbegriff« die Autoren zur Überzeugung, vom Geist dieses Propheten erleuchtet, mit ihm insofern identisch und zur Konkretion seiner Botschaft verpflichtet zu sein. Die Bibelwissenschaft pflegt in ihrem Fall von Pseudo-Daniel zu sprechen, aber pseudo- war schon der hebräisch-aramäische Danieltext!