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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1124 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Boer, Esther A. de:

Titel/Untertitel:

The Gospel of Mary. Beyond a Gnostic and a Biblical Mary Magdalene.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2005 (2004). VII, 248 S. gr.8°. Kart. £ 12,99. ISBN 0-8264-8001-2.

Rezensent:

Silke Petersen

Im Mittelpunkt dieser Monographie steht das im 2. Jh. entstandene Evangelium nach Maria (=EvMar; gemeint ist Maria Magdalena). Die Vfn. beginnt mit einem Überblick über die bisherige Forschung (Kapitel 1). Es folgt eine Diskussion der Einleitungsfragen, eine Übersetzung des erhaltenen Textes des EvMar sowie eine sehr umfängliche Aufführung neutestamentlicher Parallelstellen. Als Abschluss des 2. Kapitels stellt die Vfn. die bisher fast durchgehend angenommene gnostische Herkunft des EvMar explizit in Frage. Das dritte Kapitel dient dazu, diese These zu erhärten, indem die Vfn. zur Erklärung vor allem der Aussagen über die »verschiedenen Gestalten der Natur« (EvMar 8,2­10) stoische Texte und Übereinstimmungen mit Philo von Alexandrien als nächste Parallelen heranzieht.

Im Anschluss daran geht es ausführlich um die Darstellung Maria Magdalenas im EvMar (Kapitel 4) sowie in den neutestamentlichen Evangelien (Kapitel 5­7), wobei die Darstellung Marias jeweils in die Gesamtkonzeption der betreffenden Schrift im Hinblick auf die Jüngerschaft eingezeichnet wird. Ein Vergleich der Texte ergibt, dass die neutestamentlichen Evangelien die Rolle Maria Magdalenas herunterspielen, insgesamt aber das EvMar die meisten Übereinstimmungen mit dem Joh zeigt (Kapitel 8). Im zusammenfassenden Schlusskapitel bekräftigt die Vfn. ihre Überzeugung, dass das EvMar kein gnostischer Text sei, sondern in einen breiteren Kontext frühchristlicher Literatur gehöre. Die im EvMar verarbeiteten Traditionen gingen zudem nicht ausschließlich auf die neutestamentlichen Evangelien zurück, sondern seien »rooted in broader stream of first century written and oral tradition« über Maria Magdalena (207). Die Monographie schließt mit einer ausführlichen Bibliographie und zwei Indizes.

Das Buch enthält eine Fülle von wichtigen Beobachtungen und Einsichten, seine Lektüre bedeutet einen Gewinn für alle, die sich mit Maria Magdalena und dem EvMar beschäftigen. Dennoch bin ich auch nach der Lektüre nicht überzeugt, dass das EvMar kein gnostischer Text ist. Die Vfn. zeigt viele Übereinstimmungen mit nicht-gnostischen Texten der Spätantike; sie zeigt dies für die Lehre des EvMar anhand von stoischen und philonischen Texten sowie für die Darstellung der Personen anhand der neutestamentlichen Evangelien. Ein Vergleich mit (anderen) gnostischen Schriften wird jedoch kaum vorgenommen. Dabei finden sich dort, etwa im Hinblick auf den Seelenaufstieg und die Rolle Maria Magdalenas als geliebter und besonders hervorgehobener Jüngerin, zum Teil eindeutigere Parallelen als in den nicht-gnostischen Texten. Die heutige Kategorisierung einer Schrift hängt immer vom jeweiligen Gnosisbegriff ab; die Vfn. orientiert sich an einer Definition, die eine negative Schöpfungserzählung ins Zentrum stellt. Ob sich eine solche Schöpfungserzählung auf den verlorenen ersten Seiten des EvMar befunden hat, können wir nicht wissen; die anschließenden Ausführungen des EvMar über die Natur und die der Natur entgegengesetzte Kraft sind jedoch, auch nach der Darstellung der Vfn., deutlich dualistischer als die angeführten nicht-gnostischen Parallelen.

Insgesamt wird das EvMar in der Darstellung der Vfn. »freundlicher« gelesen, als es mir plausibel erscheint: So ist etwa fraglich, ob die Übersetzung des koptischen Ausdrucks rome ntelios als »perfect Human Being« nicht ein egalitäres Verständnis betont, das angesichts der Doppelbedeutung von rome (»Mensch«/»Mann«) und der Aussagen anderer gnostischer Texte über die Geschlechterdifferenz zu hinterfragen wäre. Schwierig erscheint auch die Argumentation mit dem (möglicherweise später hinzugefügten) Titel des EvMar als Indiz für die Parteilichkeit des Autors (oder der Autorin) für Maria Magdalena. Letztlich bleibt die Debatte um Maria Magdalena im eigentlichen Text des Evangeliums offen, wie auch die Vfn. selbst konstatiert. Nicht ausreichend berücksichtigt wird die Tatsache, dass in jenem griechischen Papyrusfragment, in dem sich das Ende des EvMar findet, nur Levi zu Verkündigung aufbricht und nicht alle gemeinsam, wie in der koptischen Fassung. Welche Fassung auch die ursprüngliche sein sollte: In einer von zwei erhaltenen Versionen führt die Auseinandersetzung im Jüngerkreis nicht zu einem versöhnlichen Ende, sondern weder die Gegner Marias (Petrus und Andreas) noch sie selbst beteiligen sich an der Verkündigung.

Trotz (und auch wegen) dieser Anfragen handelt es sich hier um einen überaus lesenswerten Beitrag zum Verständnis des EvMar und der Bedeutung Maria Magdalenas. Es bleibt zu hoffen, dass die erst in den letzten Jahren vertiefte Rezeption des EvMar in einer ähnlichen Breite weitergeführt wird.