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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1100–1102

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Victor, Christoph:

Titel/Untertitel:

Pfarrer sein in wechselnden Gesellschaften. Eine qualitative Untersuchung zu Identität und Alltag im Pfarrberuf.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 323 S. m. Abb. 8°. Kart. Euro 34,00. ISBN 3-374-02333-9.

Rezensent:

Götz Planer-Friedrich

»Oktoberfrühling« ist das Buch betitelt, das Christoph Victor über »Die Wende in Weimar« (Untertitel) geschrieben hat. Es erschien 1992 und beschreibt die revolutionären Ereignisse vom Herbst 1989 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990 in der thüringischen Klassikerstadt. Damals haben viele kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen mitgewirkt, zum Teil auch mit der Hoffnung, dass nun ein Aufschwung der kirchlichen Arbeit erfolge und die Zuwendung der Bevölkerung zur evangelischen Kirche anhalten werde.

Solche Erwartungen wurden bekanntlich enttäuscht. Die evangelischen Gemeinden in Thüringen wurden weiter minorisiert ­ teils weil sog. »Karteileichen« auf einmal reguläre Kirchensteuer zahlen sollten und deshalb kurzerhand austraten, teils weil jüngere und meist besser qualifizierte Gemeindemitglieder im Westteil Deutschlands Arbeitsplätze oder wenigstens bessere Gehälter bekamen und abwanderten.

Bald kamen die ostdeutschen Landeskirchen in akute Geldnot, die durch großzügigen Finanzausgleich seitens der westdeutschen EKD-Kirchen nicht vollständig behoben werden konnte. So mussten längst fällige Strukturreformen durchgeführt werden, die vor allem der Pfarrerschaft wegen drastischer Ausdünnung des Personalbestands einiges abverlangten. Doch das allein war es nicht, was manchen Pfarrer verunsicherte, sein Berufsbild ins Wanken brachte und zum Gefühl der Überlastung führte. Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie sich in DDR-Zeiten für den Pfarrberuf entschieden hatten, waren denen der alten Bundesrepublik gewichen.

Nun könnte man annehmen, dass die demokratischen Verhältnisse mit Religionsfreiheit und geordnetem Staatskirchenrecht geradezu einen Motivations- und Aktivitätsschub unter der Pfarrerschaft hätten auslösen können. Doch so war es nicht in jedem Falle. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Pfarrerinnen und Pfarrern tat sich schon im Alltagsleben mit den neuen Verhältnissen schwer. Und das schlägt sich auch im beruflichen Bereich nieder.

V., seit Jahren als Berater und Supervisor im Gemeindedienst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen tätig, will den Ursachen dieser Wahrnehmung auf den Grund gehen. Dazu wählt er eine Methode der Sozialforschung, die eine qualitative Auswertung von Interviewmaterial ermöglicht. Die »qualitative Inhaltsanalyse mit dem Ziel der Typisierung« intendiert nicht nur die Validierung, sondern »berücksichtigt zudem nachdrücklich das Vorverständnis des Forschers« (106). Dem geht eine Diskussion der methodischen Alternativen voraus, gefolgt von einer Beschreibung der Arbeitsweise und Erläuterung der Auswahlkriterien für die »Kohorte« der Befragten. Insgesamt wurden 15 (+ 15 Ersatz-)Personen ausgewählt, was für diesen Zweck und die qualitative Auswertung als ausreichend gelten könne. Alle gehören jenem Personenkreis an, der sich noch zu DDR-Zeiten zum Theologiestudium entschlossen hatte und nun ­ und voraussichtlich noch auf einige Zeit ­ in der thüringischen Landeskirche ein Pfarramt inne hat. Auf Grund der ausführlichen Befragung werden drei Gruppen gebildet: Selbstbewusste, Verunsicherte, Ausgebremste.

Der erste Typ kommt am besten mit den neuen Verhältnissen zurecht; der zweite empfindet ein gewisses Unbehagen, kennt aber Mittel und Wege, sich Hilfe zu verschaffen; der dritte Typ ist jener, der sich oft überlastet fühlt: Die neuen Verhältnisse nagen an seiner beruflichen Motivation, aber er kennt kaum Hilfsangebote oder nimmt sie nicht für sich in Anspruch.

V. versucht nun, auf Grund des Interviewmaterials herauszubekommen, woran es jeweils liegen könnte, dass diese unterschiedlichen beruflichen Persönlichkeitsprofile entstehen konnten. Dabei schlägt natürlich das Vorverständnis V.s schon bei der Befragung zu Buche; zweifellos hat er jedoch einige objektivierbare Faktoren herausgearbeitet. So spielt etwa das theologische Fundament für das Berufsbild eine wichtige Rolle oder die Teamfähigkeit, die auch dort Mitarbeit und Kontakt sucht, wo das strukturell nicht vorgegeben ist. Theologisch leben zumindest die »Ausgebremsten« meist nur ðvon der Hand in den MundÐ; und sie haben auch in der Regel kein eigenes spirituelles Refugium, in dem sie geistlich ðauftankenÐ könnten. Die Pfarrkonvente werden fast von allen »Typen« als wenig hilfreich empfunden, was endlich einmal Anlass geben sollte, diese Art von »Zunftversammlung« einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen.

Wer sich »selbstbewusst« sein berufliches Leben einigermaßen organisiert hat, tut es aus persönlichem Antrieb und nutzt auch Hilfsangebote in Fortbildung und Gemeindeberatung. Dieser Typus ist sogar in der Lage, Freizeit zu gewinnen und zu gestalten oder Zusatzqualifikationen zu erlangen.

Das sind eigentlich keine unerwarteten Resultate, und sie treffen wohl nicht nur auf die Pfarrerschaft in den östlichen Landeskirchen zu, so dass sich diese Arbeitsergebnisse nahtlos in die »aktuelle Diskussion des Pfarrerbildes« einreihen, die V. auch kurz referiert (59 ff.). Auffällig ist, wie viele der Befragten ihrerseits aus Pfarrfamilien stammen. Daraus resultiert nicht nur ein gewisser Wertekodex, wie V. feststellt, sondern schlicht die von Kindesbeinen an vermittelte Erfahrung mit einem speziellen Berufsalltag, in den andere nach dem Theologiestudium erst langsam hineinwachsen müssen.

Inhaltlich unbestimmt bleibt freilich, was man unter einem »theologischen Fundament« verstehen soll und wie man es erwirbt. Auch der heute gern verwendete Begriff »Spiritualität« für eine religiöse Praxis, lässt manches in der Schwebe. Überhaupt geht es oft um schwer fassbare »Gefühle«, auch um die meist undeutlich bleibende Erfahrung einer gewissen Gleichgültigkeit seitens der Aufsicht führenden Personen und Behörden.

Was für Pfarrer in der DDR eindeutig war ­ die Abgrenzung gegenüber Staat und Partei, die Konzentration auf die Kirchgemeinde als Alternative zur kommunistischen Kommune, das stolze Bewusstsein um die Außenseiterrolle im real-sozialistischen Einheitsbrei ­, das ist einer vieldeutigen Pluralität gewichen, in der jede und jeder allein eine Richtung finden und ergreifen muss. Hier liegt vielleicht das Proprium dieser Untersuchung am Pfarrpersonal aus der ehemaligen DDR. Doch Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung haben auch in der Bundesrepublik-alt im vergangenen Jahrzehnt eine Beschleunigung erfahren und vielen die Orientierung in Alltag und Beruf erschwert. ­ Am Ende gewinnt man den Eindruck, V. habe vor allem sein eigenes Aufgabenfeld als Gemeindeberater und Supervisor mit dieser Studie profiliert. Das ist ein durchaus respektables Ergebnis, könnte es doch in der Folge jenen »Verunsicherten« und »Ausgebremsten« zugute kommen, wenn sie denn Hilfe und Beratung in Anspruch nehmen.