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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1098–1100

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heymel, Michael:

Titel/Untertitel:

In der Nacht ist sein Lied bei mir. Seelsorge und Musik.

Verlag:

Waltrop: Spenner 2004. 404 S. m. Abb. 8°. Kart. Euro 22,00. ISBN 3-89991-027-3.

Rezensent:

Ulrike Wagner-Rau

In den letzten Jahren wird in der Seelsorgetheorie vermehrt darüber nachgedacht, auf welche Weise die Geschichten und die poetischen Texte, die Symbole und Rituale und eben auch die Lieder und die Musik der christlichen Tradition in die Praxis der Seelsorge zu integrieren sind. Die pastoralpsychologische Debatte hatte zunächst berechtigterweise zur Vorsicht gemahnt, mit frommen Worten und Ritualen zu überdecken, was gerade erst ausgesprochen und ausgehalten sein will. Gegen das Modell einer Seelsorge, die rasch bereit ist, ein Bibelwort als Trost in das Gespräch zu bringen, hat sie das Zuhören, das aufmerksame Begleiten, die Wahrnehmung der unbewussten Dynamik in den Interaktionen wie auch die Präsenz in der Beziehung als wesentliche Momente des seelsorgerlichen Gesprächs akzentuiert und Ausbildungswege gebahnt, um diese Künste zu erlernen.

Nachdem auf die pastoralpsychologische Professionalisierung der Seelsorge heftige Auseinandersetzungen um das Proprium der Seelsorge gegenüber der Psychotherapie gefolgt sind, haben sich die Fronten in den letzten Jahren beruhigt. Dass psychotherapeutischer Sachverstand in Theorie und Praxis für die Seelsorge ein unverzichtbare Hilfe darstellt, ist unumstritten. Andererseits wird auch wieder aufmerksam wahrgenommen, dass die Schätze der Tradition in der Seelsorge nicht nur in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben, sondern auch für den Gebrauch in der Gegenwart wesentlich sind. Es ist aber in vieler Hinsicht offen, auf welche Weise dies produktiv und methodisch reflektiert geschehen kann. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil man in der Seelsorgepraxis immer häufiger Menschen antrifft, denen die christliche Tradition fremd und unvertraut ist und die keine lebensgeschichtlich gewachsene Verbindung zu den Texten und Liedern der Kirche haben.

»Seelsorge und Musik« ist also ein Thema, von dem für die gegenwärtige Debatte einiges zu erhoffen ist. Entsprechend erwartungsvoll habe ich die Rostocker Habilitationsschrift von Michael Heymel, Pfarrer im Odenwald und langjähriger Leiter eines Kirchenchores dort, gelesen. Das Buch besteht aus einer größeren Anzahl von Vorträgen und Kurzbeiträgen, die für unterschiedliche Auditorien und Zwecke verfasst wurden. Deshalb zeichnet sich das Buch insgesamt ­ wie H. selbst vermerkt (vgl. 17) ­ durch ein hohes Maß von Redundanz aus. Manches ist durch frühere Veröffentlichungen bereits bekannt. Neu geschrieben für das Buch wurden die drei einleitenden Kapitel: 1.1 »Seelsorge als Klanggeschehen«, in dem H. seinen Beitrag in der gegenwärtigen Seelsorgedebatte verortet, 1.2 »Über das Zuhören«, das die hermeneutische Dimension musikalischer Seelsorge für die Seelsorge überhaupt reflektiert, und 1.3 »Musik und Seelsorge bei Martin Luther«, eine theologische Grundlegung des Ansatzes H.s bezogen auf die theologische Hochschätzung der Musik und des Kirchenliedes in den Schriften des Reformators. Ebenfalls neu verfasst wurde das Kapitel 3.2, in dem in der Form eines imaginären Gespräches mit Leonard Bernstein das Verhältnis von Popmusik und Seelsorge thematisiert wird, ein Kapitel, das mehr das Bemühen H.s widerspiegelt, sich der Popmusik anzunähern, als dass es für Theorie und Praxis der Seelsorge ertragreich zu lesen ist.

Insgesamt am interessantesten ist nach meinem Urteil das Kapitel 1.2, in dem H. das Zuhören als wesentliches Moment musikalischer wie religiöser Existenz akzentuiert und sich dabei auf Überlegungen so unterschiedlicher Autoren wie Joachim Ernst Berendt, Peter Sloterdijk, Roland Barthes, Franz Rosenzweig, Eduard Thurneysen, Ernst Bloch u. a. stützt. Dabei entsteht ein durchaus anregendes Mosaik unterschiedlicher Gedanken. Der Herausforderung des einzelnen Autors und seiner Beziehung zu den anderen wird H. freilich in seinem Vorgehen nur beschränkt gerecht. Aber es leuchtet ein, wenn er schreibt (73): »Der Seelsorger gewinnt für die Ausübung seines Dienstes außerordentlich viel, wenn er sich im Umgang mit Musik in der Kunst des Hörens geübt hat Š Durch konzentriertes und aufmerksames Zuhören wird er für den Klang, den Rhythmus, die Unter- und Zwischentöne, Pausen und Brüche in einem seelsorgerlichen Gespräch sensibilisiert, d. h. für alles, was der Partner indirekt und nebenbei auf einer nonverbalen Ebene mitteilt. Der Sinn für das Unsagbare verfeinert sich. Man lernt, Schwingungen in einer personalen Begegnung wahrzunehmen und sich­ bis zu einem gewissen Grad ­ von der Melodie einer Stimme affektiv ergreifen zu lassen.« Das sind wichtige Sätze. Auch die hohe Bedeutung des Klanges und der Musik für die psychische Befindlichkeit eines Menschen, die H. immer wieder hervorhebt, ist als wichtiges Moment in die Seelsorgedebatte einzuführen, die bisher ­ wie H. zu Recht kritisiert ­ Musik als heilsames Medium nur am Rande bedacht hat.

Dennoch lässt das Buch die Leserin unzufrieden zurück. Das hat unterschiedliche Gründe:

1. In der Positionierung des eigenen Ansatzes in der Seelsorgedebatte fällt H. zurück in die polemischen Fronten der 80er Jahre. Wenn er »Musiktherapie als Hilfsdisziplin« (26) bezeichnet, Seelsorge »immer im Kontext der Kirche« (27) verortet und nur das als Seelsorge gelten lassen will, was auf die Verkündigung des Wortes zuläuft, redet er einem außerordentlich engen Seelsorgeverständnis das Wort, das sich geradezu mit Ängstlichkeit von psychotherapeutischen Ansätzen unterscheidet und den Seelsorger primär als Zeugen des Evangeliums ansieht (vgl. 192).

2. Dem entspricht, dass H. praktisch keine Aufmerksamkeit für die Situation der Menschen, die in der Seelsorge begegnen, erkennen lässt. Seine Kasuistik der musikalischen Seelsorgepraxis ­ weitergehende Analysen der Fälle fehlen durchgehend ­ bezieht sich vor allem auf die Geschichte. Und meist geht es darin um fromme Menschen, nicht selten gar um Theologen. Zwar fordert er wiederholt einen dialogischen Umgang mit Musik in der Seelsorge, der den musikalischen Vorlieben unterschiedlicher Milieus gerecht wird und der mit nichtkirchlichen Menschen als Gesprächspartnern rechnet. Aber es bleibt beim Postulat, weil sein enger theologischer Ansatz keine Möglichkeit bietet, dafür Wege zu bahnen.3. Nur begrenzt lässt H. eine Kenntnis psychotherapeutischer Fachliteratur erkennen. Als Leserin hätte ich in diesem Buch eine differenzierte Auseinandersetzung mit Ansätzen und Methodiken der Musiktherapie in ihrer Relevanz für die Seelsorge erwartet. Diese Erwartung wird aber durchgehend enttäuscht.

4. Die Tatsache, dass Musik vor allem unter der Thematik des Trostes verhandelt wird, ohne dass eine Auseinandersetzung mit den problematischen Seiten des Trostbegriffes in der Seelsorge erfolgt, lässt viele Fragen offen.

5. Nicht zuletzt die Zusammenstellung der nach Meinung H.s für die Seelsorge geeigneten Lieder und Musikstücke am Schluss des Buches macht deutlich, dass auch musikalisch der Horizont eng gesteckt ist und vor allem vom Musikgeschmack H.s bestimmt ist.

Genug der Kritik. Ohne Zweifel hat sich H. ­ nicht erst mit diesem Werk ­ mit großem Engagement und persönlichem Einsatz für die Beachtung der Musik als wesentlichen Mediums seelsorgerlicher Praxis eingesetzt, dem bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Darin ist ihm unbedingt zuzustimmen. Theoretisch und methodisch allerdings führt sein Werk kaum weiter.