Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1096–1098

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wertgen, Werner:

Titel/Untertitel:

Vergangenheitsbewältigung: Interpretation und Verantwortung. Ein ethischer Beitrag zu ihrer theoretischen Grundlegung.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2001. 424 S. gr.8° = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 20. Kart. Euro 60,00. ISBN 3-506-76830-1.

Rezensent:

Michael Beintker

Die aus einer Saarbrücker Dissertation erwachsene beziehungsreiche Studie möchte einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie der Vergangenheitsbewältigung leisten (vgl. 17). Es geht dabei keineswegs nur um den Umgang mit der NS-Vergangenheit, obwohl gerade diese Vergangenheit in dramatischer Weise das Problembewusstsein für den aufarbeitenden Umgang mit der Vergangenheit schärfte. Eine Theorie der Vergangenheitsbewältigung müsse sich auf jede Form der Vergangenheit anwenden lassen: »auf eine gute wie auf eine schlechte, auf eine alltägliche wie auf eine außergewöhnliche, auf eine individuelle wie auf eine sozialsystemische Š« (ebd.). Freilich (zum Glück?) wird nicht näher untersucht, ob und wie man eine gute Vergangenheit zu bewältigen habe. Die vom Vf. bevorzugt herangezogenen Beispiele beziehen sich auf die von den großen und kleinen Katastrophen durchwirkten Vergangenheiten, wobei neben der NS-Zeit immer wieder auch die DDR-Geschichte ins Blickfeld rückt.

Die Studie ist an folgender These ausgerichtet: »Vergangenheitsbewältigung bedeutet, Geschichtsinterpretationen und Identitätszuschreibungen zu orientieren und zu parallelisieren sowie die Konsequenzen zu ziehen, die sich aufgrund dieser Interpretationen und Zuschreibungen ergeben« (23, kursiv). Diese These wird in sieben Durchgängen (»Kreisen«) so umfassend und theoretisch anspruchsvoll wie möglich erläutert und bewährt. Fast alle für die Klärung des Themas aktuellen Grundlagenforschungen von der Anthropologie über die Erkenntnistheorie bis zur Soziologie werden einbezogen. Erst im sechsten Kreis (241­296) tritt der Vf. thematisch in die ethische Erörterung ein. Der Untertitel des Buches, der einen »ethischen Beitrag« zur theoretischen Grundlegung von Vergangenheitsbewältigung in Aussicht stellt, kann entweder als bewusstes Understatement gelesen werden oder er basiert auf einem Ethik-Konzept, das die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer der Universität einschließt.

Die Untersuchung beginnt mit der Frage, ob der Mensch eine ausreichende Freiheit besitzt, um schuldhaft handeln zu können und um zur Vergangenheitsbewältigung in der Lage zu sein (Erster Kreis: Anthropologische Grundlagen, 27­53). Nachdem diese Frage vorsichtig (ist doch mit einer Vielzahl freiheitseinschränkender Determinanten zu rechnen) bejaht werden konnte, werden im zweiten Kreis handlungstheoretische Klärungen vorgenommen (54­81). Sehr rasch fixiert sich der Vf. auf die sprachlichen und hermeneutischen Aspekte des Handelns und kommt so zu dem Befund, dass Vergangenheitsbewältigung in handlungstheoretischer Hinsicht Handlungen zu interpretieren habe, um sie hermeneutisch-moralisch zu bewerten, der Identität der Handelnden zuzuschreiben und daraufhin gegebenenfalls Konsequenzen zu fordern (vgl. 81).

Natürlich orientiert sich der Vf. bei seinen Überlegungen an den einschlägigen oder für einschlägig gehaltenen fachwissenschaftlichen Theoriezusammenhängen. Die Elaboration einer eigenen Freiheitstheorie ist ebenso wenig zu erwarten wie die einer eigenen Handlungstheorie, jedenfalls auf so begrenztem Raum. Die Dominanz von Theorierezeptionen prägt auch den weiteren Verlauf der Untersuchung. Im dritten Kreis wird der Leser mit »erkenntnistheoretischen Bedingungen und Mechanismen« vertraut gemacht (82­110). Hier wird der Ansatz des Radikalen Konstruktivismus in Richtung eines »Interpretationskonstruktivismus« gezügelt (vgl. 91 ff.) und so die Aufgabe des angemessenen Deutens und Interpretierens von Vergangenheit verdeutlicht. Da Vergangenheitsbewältigung in orientierender Absicht Geschichtsinterpretationen thematisiert, sind ihre geschichtstheoretischen Fundamente zu durchdenken (vierter Kreis, 110­183). Im Sinne des Interpretationskonstruktivismus fragt der Vf. nach den Konsequenzen aus der Einsicht, dass Geschichtsschreibung Deutungsleistung und Interpretationskonstrukt ist: »Die Vergangenheit ist als Interpretationskonstrukt in der Gegenwart präsent« (117, kursiv). Daraus ergeben sich bemerkenswerte historiographische Reflexionen, die dieses Kapitel zum spannendsten der ganzen Arbeit werden lassen. Die Ausführungen des fünften Kreises zu den soziologischen Dimensionen des Themas (184­240) möchten die faktische Vergleichgültigung des Individuums und den Verzicht auf Zuschreibung von Steuerung und Verantwortung in der funktional-strukturellen Systemtheorie nach N. Luhmann korrigieren, ohne deren produktive Bedeutung für das Thema zu mindern. Auch wenn soziale Systeme wie eigenständige Entitäten wirken, muss ein interdependentes Verhältnis zwischen sozialem Individuum und sozialem System unterstellt werden (vgl. 224 ff.). Im Blick auf Vergangenheitsbewältigung sei von systemischer und individueller Verantwortung zu sprechen (vgl. 237 ff.).

Im sechsten Kreis fragt der Vf. dann nach ethischen Kriterien (241­296). Er sucht gewissermaßen einen kategorischen Imperativ für Vergangenheitsbewältigung, indem er sie vor dem Zugzwang zu einem systemrelativen, parteiischen Unternehmen bewahren möchte und sie nach Möglichkeit unter ein »transsystemisches, nicht systemfunktionales Kriterium, das die Maßnahmen der Vergangenheitsbewältigung steuern kann« (241), stellen möchte. Dazu werden gängige Ethikkonzepte befragt, wodurch das Kapitel zu einer komplexen, etwas umständlich angelegten Sammlung metaethischer Denkansätze gerät. Im Blick auf Vergangenheitsbewältigung wird der durch K.-O. Apel repräsentierte Ansatz der Transzendentalpragmatik mit der Notwendigkeit einer Letztbegründung favorisiert und gegen Theologieverdacht verteidigt (vgl. 262 ff.). Merkwürdigerweise ist der Beitrag christlicher Moral und Ethik nur einen Exkurs wert (285­294), obwohl sich in der Arbeit zahlreiche Belege für den katholisch-theologischen Kontext des Vf.s finden ­ sei es, dass zur Profilierung der christlichen Perspektive ausschließlich katholische Voten zitiert werden (vgl. 329 ff.), sei es, dass die Moral als »universales Paradigma und als Steuerungsinstrument« (294) verteidigt wird. So kommt die christliche Einsicht in den Zusammenhang von Schuld und Vergebung und in die Bedeutung der Versöhnung im Zusammenhang mit schuldbelasteter Vergangenheit kaum zur Geltung.

Im siebten Kreis (297­365) geht es um »praktische Anwendungen«: den Beitrag von Recht und Justiz, Diskursimpulse aus der Pädagogik und den Medien, performative Symbolhandlungen (sprich: öffentliches Erinnern und Gedenken) und nachhaltige Wirkhandlungen im Blick auf Täter und Opfer. Angesichts des zuvor betriebenen Aufwands an theoretischer Ambition wirkt die Erörterung dieser wichtigen Themenfelder reichlich skizzen- und schemenhaft. Man fragt sich, ob eine gründliche Entfaltung paradigmatischer Fallstudien den Zielen der Studie nicht besser bekommen wäre. Die Frage nach dem Beitrag von Justiz und Recht hätte angesichts ihrer rechtstheoretischen Bedeutung in einen eigenen Themenkreis gehört. Die wichtige Einsicht, dass Erinnern das Geheimnis der Versöhnung ist, kommt nicht angemessen zum Tragen. Die politische Ebene von Vergangenheitsaufarbeitung reduziert sich weithin auf Formen der symbolischen Interaktion im öffentlichen Raum. Die kritische Reflexion des sog. Mitläufertums, der banalen, alltäglichen Konformität, des gedankenlosen Wegschauens und der Feigheit spielt so gut wie keine Rolle. Dabei wäre die Förderung von Mut und Zivilcourage im Alltag der Menschen eine der wichtigsten Konsequenzen, die sich aus der Erfahrung mit den deutschen Diktaturen im 20. Jh. nahelegen.

Schließlich muss gefragt werden, ob die selbstverständliche Handhabung des Terminus »Vergangenheitsbewältigung« glücklich war. Dem Vf. war die Kritik an der Tauglichkeit des Begriffs bekannt (vgl. 13­16). Ihm war auch deutlich, dass sich die Bewältigung von Vergangenheit in jenem unguten Sinn von Schlussstrich und Schuldentsorgung von selbst verbietet. Dass er deshalb nicht auf Adornos und Habermas¹ Vorschlag zurückgreift, besser und unmissverständlicher von der Aufarbeitung der Vergangenheit zu reden, zumal auch die Schulddebatte nach dem Ende der DDR aus guten Gründen am Begriff der Aufarbeitung orientiert war (vgl. 309­313), gehört zu den Rätseln, die seine Arbeit aufgibt. Auch ein gängiger Begriff (vgl. 14) sollte, wenn man die durch ihn ausgelöste semantische Irreführung durchschaut hat, vermieden werden. Warum soll man nicht auch einen Beitrag zur Klärung einer ungenauen Sprachregelung leisten dürfen? ­ Was bleibt, ist ein Buch mit bemerkenswerten Impulsen und Anregungen, das die Vielschichtigkeit des Themas und seiner Beziehungsebenen vergegenwärtigt. Das Nachdenken über die ethischen Dimensionen der Aufarbeitung von Vergangenheit muss weitergehen.