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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1083–1086

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stroppel, Clemens:

Titel/Untertitel:

Edward Herbert von Cherbury. Wahrheit ­ Religion ­ Freiheit.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2000. XIV, 578 S. gr.8° = Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, 20. Kart. Euro 76,00. ISBN 3-7720-2588-9.

Rezensent:

Walter Sparn

Will man es nicht dem Umfang oder dem Preis dieser Tübinger Dissertation zuschreiben, dass sie (nach Auskunft des Verlags) bis heute keiner Rezension gewürdigt wurde, dann muss es wohl an ihrem Gegenstand und ihrer Einschätzung desselben liegen. An der historiographischen Qualität liegt es jedenfalls nicht, denn diese steht dem Rezensenten angesichts ihrer Kenntnis der gedruckten und auch ungedruckter Quellen Lord Herberts und weiterer zahlreicher Quellen des 17. Jh.s sowie der Forschungsliteratur außer Zweifel (die Register sind nicht hilfreich gegliedert; nützlich aber Register und Erklärung der Personen; kein Sachregister). Ziel des Vf.s ist es, den als kurios oder exzentrisch charakterisierten, auch musisch und poetisch tätigen Edelmann, Diplomaten und autodidaktischen Philosophen in religiös und politisch zerrissener Zeit als einen theoretisch, religionsphiloso- phisch und praktisch bedeutenden, der Aufklärung den Weg bereitenden »Eigen- und Querdenker« vor Augen zu führen. Der Vf. will in Herbert überdies einen auch gegenwärtig wichtigen Theoretiker von »Religion« und »Offenbarung« vor Augen führen, fundamentaltheologischen Anregungen seines Doktorvaters M. Seckler folgend.

Der Vf. erklärt einleitend sein Vorhaben und sein Vorgehen (z. B. den Abdruck der lateinischen und englischen Originale seiner Zitate), stellt in § 1 auf Grund der postum edierten Autobiographie Herberts und aller bisherigen Biographien die Lebensgeschichte Herberts detailliert in ihren familiären, religiösen und politischen Umständen dar (6­41), charakterisiert in § 2 den uomo universale zwischen fahrendem Ritter, Gentleman und eklektischem, doch gedanklich strengem Philosophen (42­49), notiert in § 3 die Bibliographie der Werke (49­52) und vergewissert sich in § 4 der Rezeptionsgeschichte, zumal der eher wenigen positiven Einschätzungen Herberts (M. M. Rossi, G. Gawlick, R. D. Bedford, David A. Pailin u. a.).

Als »Neue Suche nach Wahrheit und Gewissheit« stellt Teil I (56­258) die von Herbert bleibend festgehaltene Erkenntnislehre anhand seines Erstlingswerkes De veritate (1­31624­1645) vor. Diese Schrift wird in ihrer Genese und Eigenart gekennzeichnet (Kapitel 1, §§ 5­7). Die Darstellung ihres Begriffs der Wahrheit, vor allem als Relation und Intuition (Kapitel 2, §§ 8­10), und der Erkenntnisvermögen (typisiert: natürlicher Instinkt als aktuale Erkenntnis der Allgemeinbegriffe; innere Sinne; äußere Sinne; diskursives Denken, §§ 11 f.) läuft zu auf die Erklärung der Allgemeinbegriffe (notitiae communes) im Bezug auf Religion, also auf die fünf berühmt-berüchtigten Sätze des great patron of Deism (§ 13). Das Kapitel 3 stellt die (von Herbert gesteuerte) europäische Verbreitung und kritische Aufnahme der bald von Rom indizierten Schrift (T. Campanella, P. Gassendi. M. Mersenne, R. Descartes, J. Hübner) und Herberts Reaktion (De causis errorum, De religione laici, De religione gentilium, A dialogue between a tutor and his pupil) dar (§§ 14­16). Der Vf. kritisiert Herberts ausufernde, kaum handhabbare Methodologie, verteidigt aber das Konzept eines von Autoritäten freien, mündigen Denkens und seiner Fähigkeit der Erkenntnis allgemein teilbarer, grundlegender Wahrheiten; speziell gegen die sehr wirksame Kritik J. Lockes und G. W. Leibniz¹ an den »eingeborenen« Prinzipien oder Ideen stellt der Vf. heraus, dass Herbert von zunächst latenten, erst durch affizierende Erfahrungen explizit werdenden Begriffen, von Grundstrukturen des Denkens spreche (§§ 17 f.). Dass damit jedem von Krankheit oder Vorurteilen nicht beeinträchtigten Menschen ein »unmittelbarer Sinn für die Wahrheit« zugeschrieben wird, leuchtet ein ­ Herbert waren Plato, die Stoa und das Corpus Hermeticum gut bekannt. Dass der Vf. die Vernunft, der kraft jenes sensus ein höchstinstanzlicher Status für die Prüfung jeglichen Wahrheitsanspruchs zukommt, daher als »theonom« (539) kennzeichnet, erscheint dem protestantischen Rezensenten, der kein Interesse an pura naturalia hat, als eingetragenes fundamentaltheologisches Interesse.

Die Option Herberts für die Religionsphilosophie (222 ff.) wird dann im zentralen Teil II (»Wahre Religion und Offenbarung«, 259­410) als Herberts Religionstheorie entfaltet. Diese Stichwörter sind Gegenstand des Kapitels 4 (§§ 19­21; 259­347) bzw. des kürzeren Kapitels 5 (§§ 23 f.; 348­369). Herbert bestimmt Religion als richtende und erlösende (!) Beziehung zu Gott, verwirklicht als vernünftige Gottesverehrung in Tugend und Frömmigkeit (§ 19): auf Grund des universalen Heilswillens Gottes eine reale Heilsmöglichkeit für alle Menschen (§ 20). Weil die religiösen Allgemeinbegriffe der heilssuffiziente Wesensgehalt echter Religion sind, stellen sie die Norm dar, mit der auch Laien religiöse Ansprüche beurteilen können und mit der religionsvergleichend das wahrhaft Religiöse in empirischen Religionen und Konfessionen identifiziert werden kann. Sie sind Fundamentalartikel der »orthodoxen«, »katholischen Kirche« in allen Kirchen und Religionen und können daher als konstruktive Norm eines allgemeinen Religionsfriedens fungieren (§ 21). Herbert ist überzeugt, dass es diese ideale Religion einst auch empirisch gab ­ bevor die »Priester« alles verdarben (§ 22). Es ist nur konsequent, wenn er die religiösen Allgemeinbegriffe auch gegenüber den Ansprüchen von Offenbarung und gegenüber der Verbalinspiration der Bibel geltend macht. Keineswegs ðDeistÐ, leugnet Herbert die Möglichkeit der Offenbarung religiöser Wahrheit nicht (§ 23), sondern besteht ­ dem Vf. zufolge mit Recht ­ mit 1Petr 3,15 auf der inhaltlich und prozedural einschränkenden »Kontrolle« (!) außergewöhnlicher Offenbarungserfahrung (§ 24).

Kapitel 6 referiert die theologische Kritik in Deutschland und den Niederlanden, die auf »Naturalismus« plädiert (A. Heidanus, Chr. Kortholt, M. Berns, G. Arnold, J. F. Budde, J. Musaeus, § 25 ­ der Vf. sieht richtig, dass die Theologen keinen operablen Naturbegriff haben, 382 ff.), und über die auf »Deismus« hinauslaufende Kritik in England (R. Baxter, Th. Halyburton, J. Leland, § 26). Der Vf. setzt ihr entgegen, dass Herbert »Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung« gewesen sei (406).

Der Teil III (»Religionsfreiheit und Friede: Diplomatische Aktivitäten und Ziele Herberts«, 411­534) expliziert die politische Bedeutung des Herbertschen Religionsbegriffes. Der Vf. schildert die abenteuerliche Tätigkeit Herberts als zweimaliger Botschafter Jakobs. I. zu Beginn des 30-jährigen Krieges (Kapitel 7, § 27 f.) und charakterisiert ihn, beeinflusst von den französischen Humanisten (I. Casaubon), den Arminianern (H. Grotius u. a.) und den Monarchomachen, als Anwalt für ein allgemeines Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit, d. h. für freie Entscheidung des Einzelnen zur (Nicht-)Annahme eines über die religiösen Fundamentalartikel hinausgehenden Bekenntnisses (Kapitel 8, §§ 29­31).

Sein historiographisches Ziel, die notorische Unterschätzung Herberts zu korrigieren angesichts seiner Leistungen als Philosoph, Theoretiker der Religion und Politiker, hat der Vf. erreicht. Der Schluss (535­545) erklärt auch sein aktuelles fundamentaltheologisches Ziel in Herberts Religionsbegriff für erreicht ­ zu Recht. Aber dieses Ziel ist erreicht um den horrenden Preis, den »lebendigen theistischen Glauben« Herberts (543) als theologisch normativ zu akzeptieren. Nicht zufällig gebraucht der Vf. den Offenbarungsbegriff, anders als Herbert (!), auch für die allgemeine Vorsehung Gottes, für »Religion« (352 f.). Der Vf. bindet sich an obsolete Problemlagen; der auf Herberts angeblich »theonomem Vernunftbegriff« (543) beruhende fundamentaltheologische Vorschlag ist m. E. unbrauchbar.

Das sagt der Rezensent nicht erst wegen Herberts Ablehnung der calvinistischen Prädestinationslehre (der ja der lutherische Universalismus der Erwählung gegenüberstand) und der reformatorischen Sündenlehre (540), sondern schon aus folgenden Gründen. Erstens: Man mag sagen, dass Herbert »Inspirator der modernen Religionswissenschaft« sei (410.538) ­ modern wäre Herbert allenfalls im Sinn eines Max Müller. Aus guten Gründen ist die Gleichsetzung von »ursprünglich« mit »allgemein«, also z. B. die Annahme einer »Uroffenbarung« (393), religionswissenschaftlich inzwischen ebenso verabschiedet wie die von »allgemein« mit »vernünftig«, also die Annahme einer von Vorurteilen freien Neutralität der Wissenschaft.

Zweitens: Der Vf. schreibt dem »kommunikablen«, »grenzüberschreitenden« (540 f.) Religionsbegriff Herberts die Fähigkeit zu, religiösen Pluralismus zu verstehen und religiöse Toleranz zu begründen. Aber auch wenn man Herberts Religionsbegriff nicht als rationalistisch, sondern als phänomenologisch (260 f.) einschätzt, begründet er, als zweifellos abendländische Konstruktion, keinen die Binnenlogiken fremder Religionen respektierenden, sondern sie nivellierenden, wenn nicht imperialen Umgang mit andern Religionen. Drittens: Man kann Herberts »streng theozentrische Konzentration aller wahren ðreligioЫ als Entgrenzung eines »supranaturalistischen« (»positivistischen«, »absolutistischen«) Offenbarungsbegriffes (352 f.) loben, aber man kann nicht zugleich als unerheblich beiseite stellen, dass Herbert »der Christologie aus dem Weg geht« (544) ­ es sei denn, man billigt, »wahrer« Religion, auch religiös »anonym(er)« Praxis (541) zu, »erlösende« Beziehung zu Gott zu sein. Der Wunsch, nicht länger des christlichen Absolutismus¹ verdächtigt zu werden, macht sich selbst verdächtig, wenn er Alterität überhaupt zum Verschwinden bringen muss.