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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

433–435

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Vogt, Markus

Titel/Untertitel:

Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1997. XI, 484 S. 8°. Kart. DM 68,­. ISBN 3-451-26130-8.

Rezensent:

Hans-Hinrich Jenssen

Die Arbeit besteht aus drei größeren Hauptteilen, die jeweils wieder drei Kapitel umfassen. Vorausgeschickt sind als Kapitel1 "Vorüberlegungen zur Fragestellung und Methode", deren Kernpunkt die Forderung der "Transdisziplinarität als Forschungsprinzip Theologischer Ethik" ist, wobei Transdisziplinarität im Unterschied zur Interdisziplinarität "die disziplinären Dinge nicht einfach" lasse "wie sie sind", sondern zu einer "Einheit der Wissenschaft" führe (12/13, im Anschluß an J. Mittelstraß).

Der 1. Teil "Darwins Selektionstheorie" behandelt "evolutionäre Erklärungsmodelle vor Darwin", "das Motiv des Daseinskampfes" in Darwins Entstehung der Arten und "die Evolution der Moral aus sozialen Instinkten" gemäß Darwins Abstammung des Menschen.

Der 2. Teil behandelt die Thematik "Darwinismus als Gesellschaftstheorie", d. h. die unterschiedlichen, z. T. sehr heterogenen Varianten des sogenannten "Sozialdarwinismus". Hier ist zunächst das 5. Kapitel Speners "Entwurf einer universalen evolutionären Ethik" gwidmet. Kapitel 6 erörtert dann den "Sozialdarwinismus auf der Grundlage evolutionärer Fortschrittstheorien", wobei drei große Komplexe zur Darstellung gelangen: einmal der religiös eingefärbte liberale Sozialdarwinismus in den USA, d. h. das System des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs, sodann die "Begründung des antimetaphysischen Sozialdarwinismus durch Haeckel", der R. Goldtschmidts "Kritik aus milieutheoretischer Perspektive" angehängt ist, schließlich folgen "Sozialistische Varianten des Sozialdarwinismus", wobei auch Peter Kropotkins "Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung", eine "Kampfschrift gegen den Sozialdarwinismus", dennoch als solcher eingeordnet wird, da er die gegenseitige Hilfe ja als beste Waffe im Kampf ums Dasein bezeichne (247). Kapitel 7 schildert dann die "sozialdarwinistische Wende zu Rassen- und Verfallstheorien" von A. Gobineau bis zu Adolf Hitler.

Der 3. Teil "Evolutionäre Gesellschaftstheorie im Anspruch des Humanen" zieht zunächst im Kapitel 8 ein "Resümee der politischen und wissenschaftlichen Wirkungsgeschichte des Darwinismus". Dann folgt ein Kapitel, in dem unter Rückgriff auf Kants Transzendentalphilosophie und vor allem theologische Erwägungen "Die Unverfügbarkeit des Menschen als Antwort philosophischer und theologischer Ethik" postuliert wird. D. h. hier stellt der Autor biologisch-anthropologischen Ansätzen einen bewußt geisteswissenschaftlich orientierten Ethik-Entwurf gegenüber. Kapitel 10 ist abschließend um einige Konkretisierungen bemüht und bringt "Strukturparallelen der Ethik von Interaktion, Identität und Institution" zur Darstellung. Der Nachdruck liegt hier auf einem jeweils vermittelnden Ausgleich von "Selbstbehauptung, Fürsorge und Sachhaft-Gebrauchen als Grundelemente(n) der Interaktion", von "Identitätsfindung durch Affirmieren, Arrangieren und Instumentalisieren" sowie auf der Behandlung des Begriffes "Gerechtigkeit als evolutionäe(r) Perichorese" von Leistungs-Ausgleichs- und Funktionsgerechtigkeit.

Der katholische Autor charakterisiert seine als Münchener Dissertation angenommene Arbeit als "primär historisch ausgerichtet" (325), hat dabei aber durchaus einen sachlichen Zielpunkt. Er wehrt sich nämlich dagegen, daß daraus, daß es sich bei den unterschiedlichen Sozialdarwinismen um Fehlformen disziplinübergreifender Theoriebildung handle, generell auf eine Irrelevanz evolutionärer Forschung für normative Fragen geschlossen wird (326). "Der Versuch, empirische Forschung und normative Bestimmungen zu verbinden, ist ein nach wie vor berechtigtes Anliegen, das mit der Widerlegung von einseitigen Verknüpfungsversuchen ... noch keineswegs als ganzes zurückgewiesen ist" (316/317). Denn "Ethik, die sich völlig von empirischen Grundlagen abspaltet, hängt im Leeren" (316).

Schon im Eingangskapitel hatte er die Aktualität des Themas mit dem erneuten Vordringen der Biowissenschaften, z. B. im Rahmen aktueller Umweltprobleme, begründet (3). Allerdings geht die Arbeit trotz ihrer Forderung nach Transdisziplinarität kaum auf diese oder andere aktuelle ethische Probleme ein, für die die Biowissenschaften maßgebliche Relevanz beanspruchen. So wird z. B. neuerdings im Hinblick auf die von der Gesellschaft kaum noch zu tragenden Kosten, die dann entstehen, wenn medizinischer Fortschritt erblichen Diabetikern oder Blutern die Fortpflanzung ermöglicht, ein neues eugenisches Bewußtsein der Einzelnen gefordert. Und stark tangiert werden die von Vogt entwickelten anthropologischen und ethischen Positionen "personaler Freiheit" von einem aus der Zwillingsforschung abgeleiteten Determinismus. Auch der von einigen Soziobiologen behauptete genetische Determinismus wird von V. gänzlich außer acht gelassen, obwohl er die Soziobiologie in anderem Zusammenhang zusäzlich in Anspruch nimmt. Die neueren, zum Teil sehr differenzierten Erörterungen von Biologen zum Verhältnis von Natur und Kultur und den sich daraus ergebenden anthropologischen Konsequenzen bleiben fast gänzlich unberücksichtigt.

So stellt sich doch die Frage, ob es wirklich einer erneuten Darstellung der vielen Sozialdarwinismen bedurfte, bloß weil "dem sozialdarwinistischen Impuls zu kombinatorischer Theoriebildung ..." auch heute noch "durchaus positive ethische Valenz" zukomme (326). Diese Frage stellt sich umso mehr, da die historische Darstellung meines Erachtens ­ trotz vieler guter Beobachtungen und Erkenntnisse ­ auch durchaus Defizite aufweist, von denen drei kurz genannt seien:

1. Die Behauptung, daß Darwins Agnostizismus sich nur auf die Unerkennbarkeit des Anfangs aller Dinge beziehe, nicht auf die Frage nach der Existenz Gottes (50), ist trotz Äußerungen Darwins, die scheinbar dies aussagen, nicht haltbar, wenn man alle Äußerungen Darwins zu dieser Frage berücksichtigt.

2. Die Zurückweisung der Darstellung von Darwins Kozept der Anpassung als "Antithese" zur bzw. "Zurückweisung" der Naturtheologie W. Paleys (49/50) (der übrigens im Literaturverzeichnis und Register fehlt, obwohl er auf 6 Seiten erwähnt wird) ist zumindest recht problematisch, da zwar das Phänomen der Anpassung für beide Ausgangspunkt ist, Darwins natürliche Erklärung derselben aber Palays theologischen Schlußfolgerungen daraus nach Darwins Selbstverständnis widerspricht; wenn es meines Erachtens auch durchaus möglich ist, zwischen beiden Positionen positiv zu vermitteln, aber eben gegen Darwins eigene Meinung.

3. Es ist schwer verständlich, warum die Darstellung der sozialistischen varianten des Sozialdarwinismus mit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg endet und die so überaus folgenreiche Variante der Stalin- und Chrustschow-Zeit in der Form des "schöpferischen Darwinismus" des Scharlatans Lyssenko übergeht. Denn hier ist ja über die recht allgemeine Parallelität von Daseinskampf und Klassenkampf hinaus eine ­ zwar auf gänzlich falschen Voraussetzungen beruhende ­ aber in sich überaus stringente Verbindung von Biologie und Gesellschaftslehre erreicht: Sowie Lyssenko durch geplante Milieuveränderung Pflanzen und auch Tiere mit Erbfolgen "erziehen" wollte, so wollte die Partei durch gezielte Milieuveränderung in der Generationenfolge den neuen Menschen bis in sein biologisches Substrat hinein erziehen. Das war ein sehr konsequenter Sozialbiologismus, der freilich mehr Lamarck und Spencer folgte als Darwin; aber das gilt ja gerade nach V. vielfach auch sonst.

Schließlich ist mir auch unverständlich warum V. auf die beiden evangelischen Sachauseinandersetzungen mit sozialdarwinistischer Ethik von Gerd Theißen: Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984 und Hermann Ringeling: Der Christ im Kampf ums Dasein. Darwinismus und christlicher Glaube heute, 1963, überhaupt nicht eingeht.